berliner szenen Der Hunger der Nachbarn

Belegte Brote

Heute Nacht haben sie wieder belegte Brote gegessen. Das ist jetzt schon das vierte oder fünfte Mal hintereinander. Wie lange soll das denn noch weitergehen?

Seit einigen Tagen sehe ich ihnen dabei zu, wie sie sich eine Stulle nach der anderen in den Mund schieben. Und das um drei Uhr nachts. Ich kann leider nicht erkennen, was sie auf ihren Broten haben. Ich kann auch nicht die Küche sehen, in der die Brote geschmiert werden. Ich sehe immer nur, wie sie diese belegten Brote in der Hand halten und in sie hineinbeißen.

Eigentlich würde ich viel lieber schlafen, aber seit einer Woche will meine Tochter unbedingt um drei Uhr nachts durch die Wohnung getragen werden und bringt diesen Wunsch auch lautstark zum Ausdruck. Also stehe ich auf, hebe sie aus ihrem Bett und tue ihr den Gefallen. Und sehe dabei zum Nachbarhaus hinüber. Es ist das einzige Fenster, das um diese Zeit hell leuchtet. Die anderen Fenster sind dunkel, weil die Leute schlafen oder Dinge tun, bei denen sie nicht beobachtet werden wollen. Aber diese drei haben nichts zu verbergen. Zwei Frauen und ein Mann Ende dreißig, die belegte Brote essen. Sie kauen sehr regelmäßig und gründlich und mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck. In den letzten Nächten haben sie auf diese Weise bestimmt vier Laib Brot in ihren Mägen verschwinden lassen.

Woher kommt dieser mysteriöse Heißhunger? Warum essen sie zur Abwechslung nicht mal Jogurt oder Müsli? Und warum trinken sie nie etwas? Sie scheinen überhaupt keinen Durst zu haben. Ist das Ganze vielleicht eine rituelle Aktion, die ich nicht verstehe? Mir ist das alles ein Rätsel. Jede Nacht diese Unmengen belegter Brote, während ich versuche, meine Tochter in den Schlaf zu wiegen. DANIEL KLAUS