Die Ziege Stirbt. Und die Trauer unserer Ganzen Familie vermengt sich mit Abwasch
: Die eitle Vergänglichkeit

Foto: privat

Vogelfluglinie

von Rebecca Clare Sanger

Die Weihnachtspost. „Ich hoffe, ihr habt sie als A-Klasse-Brief geschickt, ansonsten dauert das zwischen fünf und zehn Werktagen.“ Und damit ist eigentlich die Zweckmäßigkeit der Sendung auch schon ausgestanden. Wie lange halten sich so ’ne Würmer in einer Kotprobe in einem Plastikbeutel schon, sicherlich keine zwei Wochen. Wären wir bloß selbst die 40 Kilometer zum Tierarzt gefahren –mit dem Kot im Gepäck.

Eine Wurmkur pro Jahr kann doch nicht schaden. Die tierärztliche Verschreibungspflicht wird, anlässlich der spärlichen Besetzung von Nutztier-Tierärzten hier auf dem Lande, zum Anreiz, das Zeug illegal aus Schweden zu bestellen. Und sowieso, in zwei Wochen sind wir ja eh schon in Hamburg, und das Zicklein weiterhin allein im Geräteschuppen, mit seiner Wärmelampe und dann zwei Nachbarn, die täglich Futter bringen werden. Fünf Minuten Abwechslung alle 24 Stunden.

Ich denke an Natalie, wenn ich kurz das Türchen aufmache. In letzter Zeit begrüßt mich das Kitz nicht einmal mehr, wenn ich komme. Entkräftet liegt es unter der Lampe.„Fangen wir doch mal mit ’ner Wurmkur an“, sagte die Ärztin und rechnete nicht mit der Weihnachtspost, und wir rechneten nicht damit, mit unseren guten Absichten direkt zum Leid beizutragen.

„Wir haben halt gar keine Ahnung“, sagten wir zueinander in den Tagen vor Weihnachten und riefen alle Ziegenbekannten an, aber niemand hatte guten Rat oder mal schnell eine Wurmkur.

Unsere Weihnachtswoche in Deutschland hat die rote Wurst in der Postsendung aus Hessen nicht überlebt. Sie lag im Posthaus in Stege und setzte in Plastik gewickelt blauen Schimmel an. Die gleichermaßen plastikumhüllten Würmer im Kot aber schon.

Telefonisch lässt die Tierärztin ein Rezept in unserer Apotheke hinterlegen.Beim Verabreichen stirbt das Kitz.Eitle Vergänglichkeit sollte doch nur die eitlen Zeitvertreibe ihrer Vergänglichkeit überführen. Nicht welche, die sich um Leben handeln. Nicht unsere. Nicht die, mit hilflos guter Absicht.

„Ich will nicht, dass die Babyziege tot ist“, sagt unser Sohn und: „Ich will die Babyziege sehen“, unsere Tochter. Und ich sehe sie, vor einem Jahr im Hundekorb vor unserem Kamin, vorlaut auf der Weide, in den abgekauten Olivenbaumzweigen vor unserem Fenster.

Und ich weine ein bisschen und sehe gleichzeitig den unabgedeckten Abendbrotstisch, die Küchenuhr, fühle die volle Windel meines Sohnes und die Holzeisenbahngleise in Wohnzimmer, Gästezimmer, Badezimmer und Küche unter meinen Füßen. Und die Trauer unserer ganzen Familie vermengt sich mit dem Abwasch und dem schlechtem Gewissen, mit Schlaf und Erleichterung, mit Zorn, Duplo und fehlenden Worten, da tun sich die Vierzigjährigen gegenüber den Dreijährigen nicht viel – und nun ist sie unter der Erde.

Und bevor uns ein besorgter Leser anzeigt: Die verbleibenden Ziegen stehen nun – fast – zum Verkauf.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle.