Das Comeback hat begonnen

AUS NEW ORLEANSMICHAEL STRECK

In diesem Moment versagt selbst der letzte Funke jener optimistischen Haltung, für die Amerikaner bekannt sind. Rick und Laura Maynard sind entsetzt. Sie stehen vor ihrem Haus. Oder dem, was davon noch übrig ist. Sie tragen Gummistiefel und Handschuhe, um ihren Hals hängen Atemschutzmasken. Aus dem Innern dringt beißender Geruch. Die Decke ist eingestürzt, die Möbel sind zerschreddert, manche ineinander verhakt. Alles ist von dunkelbraunem Schlamm überzogen. 15 Jahre hat das Paar hier gelebt, im Stadtteil St. Bernards, östlich der Innenstadt von New Orleans, wo das Land besonders tief liegt. Hier war alles bis zu den Dächern überflutet. Die Höchstmarke des Wassers zeigt eine braune Linie an der Außenwand. Samstag wurden hier, fast 5 Wochen nach dem Hurrikan „Katrina“, zwei weitere zwei Leichen gefunden. Die Zahl der offiziellen Todesopfer liegt damit bei 935.

Nach reden ist den Maynards nicht zumute. „Es ist das erste Mal, dass ich nicht weiß, wie es weitergeht“, sagt er. Fast andächtig gehen sie durch die Ruine, sortieren Sachen aus. Porzellan und Glas. Seit Jahrhunderten Überreste untergegangener Orte. Viel ist es nicht. Das salzige Wasser hat das meiste zerfressen. Immer wieder nehmen sie sich in die Arme. Gestern erlaubte ihnen der Bürgermeister, bis zur Sperrstunde um acht Uhr zurückzukehren. Vor vier Wochen flüchteten sie, nahmen mit, was in zwei Koffer passte. Papiere, Urkunden, Policen. Niemand ahnte, dass der Deich brechen wird. Nun schlafen sie im Motel, dann bei den beiden Töchtern in Georgia, tagelang leben sie im Auto.

Rick Maynard hat immerhin einen Job. Er arbeitet für „Caterpillar“, dessen Bulldozer und Planierraupen derzeit in New Orleans im Dauereinsatz sind. Seine Frau ist arbeitslos. Ihr Büro für Rechnungsprüfung in der Innenstadt ist verwüstet und geplündert. Ob sie dort jemals wieder beschäftigt wird, steht in den Sternen.

Lange halten sie es nicht aus. „Die Vorstellung, dass alles hier eingestampft wird, ist zu bedrückend“, sagt sie. Ihr ganzes Viertel wird wohl abgerissen. Die Häuser sind zerstört, der Boden ist verseucht. Er glaubt, dass New Orleans die Hälfte seiner Einwohner verlieren wird. Die Hoffnung, bleiben zu können, ruht nun auf ihrer Schwester, deren Haus sich dort befindet, wo die Fluten nur Keller oder Erdgeschoss erreichten. Gemeinsam begutachten sie wenig später das solide Steinhaus. Es kann wahrscheinlich getrocknet und saniert werden, während sie im Obergeschoss wohnen. Doch sie wissen nicht, wie sie das alles finanzieren sollen. Viele Menschen hier in der Gegend sind so verzweifelt, dass sie ihre Häuser abbrennen, erzählt er. Gestern waren es wieder sechs. Denn die Versicherungen übernehmen nur dreißig Prozent bei Flutschäden, jedoch hundert Prozent bei Bränden.

Ein erstes Lebenszeichen

Nebenan durchkämmen zwei Frauen ein Haus und suchen den Hund des Eigentümers. Sie helfen, Haustiere aufzuspüren. Im Glücksfall bringen sie diese in ein Tierheim außerhalb der Stadt. Am Ende der Straße, in der unter einer Brücke ein Tanklastzug bis zur Fahrertür im Wasser steht, findet sich in einer Werkstatt das einzige Zeichen geschäftlichen Lebens in dieser Gegend. Ein älterer schwarzer Mann repariert Reifen. Regelmäßig stoppen Polizeiwagen und Armeejeeps und bringen Arbeit.

New Orleans ist militärisches Sperrgebiet. Die Szenen erinnern an die verwitterte Hauptstadt eines Karibikstaats, in dem amerikanische GIs intervenierten, um nach einem Bürgerkrieg für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ganze Häuserzeilen wurden ausgeschlachtet und in Brand gesteckt. Soldaten patrouillieren. Checkpoints blockieren wichtige Straßenkreuzungen.

Die Stadt ist dreigeteilt. Zonen, die das Ob und Wann der Wiederbelebung markieren. Weiter draußen jene Wohnviertel, die nach wie vor ausgestorben sind, wo die einzige Veränderung der Rückzug des Wassers ist, Autos in Vorgärten liegen, Boote auf der Straße, öliger Schlick in der heißen Sonne verkrustet, eine apokalyptische Landschaft, wie sie Endzeit-Filmemacher nicht besser hätten erfinden können. Dann jene Stadtteile, die höher liegen, wohin Menschen zurückkehren dürfen, sich mehr der Sturm entlud, nicht die faulende Kraft des Wassers, und Schäden reparabel erscheinen. Und schließlich das Geschäftsviertel mit den Amüsiermeilen im French Quarter, die weitgehend trocken blieben, wo die Satellitentrucks von TV-Stationen stehen, Generatoren und Trockenmaschinen dröhnen, täglich neue Putzkolonnen ankommen, die Hotels und Bürotürme säubern sollen.

„Die Stadt befindet sich im Koma. Sie liegt noch auf der Intensivstation“, sagt Chuck Mason, der Schutt und Müll rund um das Pan-America-Haus beseitigt. Dort arbeitet der 53-Jährige sonst als Hausmeister, doch außer ihm ist kaum jemand heimgekehrt. Er sieht aus wie ein gutmütiger Kapitän, mit Tattoos auf dem Oberarm und einem gestutzten Bart. Er glaubt an das „Comeback“ von New Orleans, wenn auch sehr langsam. Die Stadt ist zäh, meint er, hat auch früher dramatische Zeiten erlebt. Krankheiten, Bürgerkrieg und Hurrikan „Betsy“. Er selbst kehrte mit seiner Frau nach einer dreiwöchigen Odyssee in die Stadt zurück. Ein Leben woanders kann er sich nicht vorstellen. Sein Haus hat außer leichten Schäden dem Sturm getrotzt. Doch es gibt noch keinen Strom, kein Wasser, Gas und keine Müllabfuhr. Bis auf einen Supermarkt bleiben alle Läden geschlossen. Täglich muss improvisiert werden. Nichts ist mehr Routine. Es dauerte über eine Woche, bis er sich einen Kühlschrank organisieren konnte. Manchmal kommt am Morgen das Rote Kreuz und bringt Frühstück. Da Banken dicht und Geldautomaten außer Betrieb sind, wird Bargeld knapp. So floriert der Tauschhandel.

„Es ist alles so surreal“

Wenn Mason das erzählt, gluckst er oft in sich hinein. „Über diese Situation, die in einem der reichsten Länder so surreal ist, muss man einfach lachen. Nur so ist sie zu meistern.“ Manchmal, sagt er, hilft allerdings nur noch der liebe Gott. Wie neulich, als sein Chevrolet auf der Rückfahrt nach New Orleans liegen blieb und die Werkstatt ihm die 800 Dollar für die Reparatur einfach erließ. Aus Dankbarkeit und um sich irgendwie nützlich zu machen, heuerte er bei der Stadtverwaltung an, klopft im French Quarter an Türen und verteilt Flugblätter, die den ersten Rückkehrern Tipps geben. Zum Beispiel wie man Wasser desinfiziert oder Abfall vorläufig entsorgt. Auf seiner Tour gestern Abend öffneten ihm fünf. Einer mit gezogener Waffe.

Das noch weitgehend entvölkerte Vergnügungsviertel wirkt wie eine Filmkulisse nach Drehschluss – wären da nicht überall Abfall- und Gerümpelberge. Hier und da kehrt langsam Leben zurück. Im Nachtclub Little Darlings wird die Lichtanlage für den „Table Dance“ getestet. Das Bistro Stella serviert Cheesburger vom rustikalen Holzkohlengrill. Und im Royal Sonesta können die einquartierten Polizisten und Journalisten bei plätscherndem Brunnenspiel schon wieder Cocktails am Swimmingpool schlürfen. Stolz erzählt Hotelchef Hans Wandfluh, dass er keinen einzigen Tag seit „Katrina“ schließen musste. Zwei eigene Generatoren und Wasseraufbereitungsanlagen machen das Royal autark. Der ergraute Schweizer sagt: „Alles ist hier intensiver, Essen, Musik, Sex, Alkohol.“ Er ist derzeit wahrscheinlich der einzige Mensch in der Stadt mit gebügeltem und sauberem Hemd. Demonstrative Weigerung, das Chaos ringsum zu akzeptieren.

Seit 1979 lebt er hier. In dieser Zeit hat sich das French Quarter kaum verändert und vermittelt nach außen das Bild einer jazzenden Partystadt. Verborgen vor den Fremden, erlebt New Orleans jedoch seit langem einen Exodus. 200.000 Menschen suchten innerhalb von 30 Jahren ihr Glück woanders. Die Flut wird diesen Aderlass beschleunigen.

Leute vergessen, sagt Wandfluh, dass New Orleans nicht nur glamourös und schön ist, sondern auch verrottet, dunkel, gewalttätig und arm. Sehr arm. Hier gibt es immer noch Subsistenzwirtschaft wie in Entwicklungsländern. Viele Schwarze leben vom Fischen in den Sümpfen und im Mississippidelta. Sie werden von der städtischen Bürokratie und Wirtschaft nicht erfasst. Dies ist auch ein Grund, warum sich ihre Evakuierung als so problematisch erwies. Weder hatte die Stadt sie eingeplant, noch waren sie auf eine Flucht vorbereitet. Der Sturm hat diese Realität ins Bewusstsein gerückt, wohl aber auch davongespült. „Das Dasein dieser Menschen ist nunmehr unwiederbringlich vorbei“, prophezeit Wandfluh. Er spricht aus, was Geschäftsleute hinter vorgehaltener Hand, jedoch selten laut, sagen. Sie betrachten die Flut als „Chance“, das Armutsproblem zu „lösen“, die Schandflecken zu beseitigen und damit auch den Morast der Kriminalität auszutrocknen.

Wird „The Big Easy“ demnächst also Freizeitpark, der Pauschalreisenden drei Tage Leichtigkeit verkauft? Wandfluh sagt, das habe längst stattgefunden. „Schau mich an. Einmal in 26 Jahren habe ich die Innenstadt verlassen. Für eine Beerdigung. Ich war so irritiert von der Armut und Fremdheit dort draußen, dass ich fortan hier blieb. Das Ghetto lässt sich wunderbar ausblenden. In New York fahren Besucher und Bewohner Manhattans auch nicht in die Bronx. Die Leute werden also wieder kommen und hier feiern.“ Mit einem Unterschied: Die Bronx in New Orleans ist zwanzigmal größer.