Studieren mit den Enkeln

GASTHÖRER Man kennt sie als grauhaarige Eminenzen aus der Geschichtsvorlesung oder dem Philosophie-Seminar. Doch was treibt Deutschlands Senioren in Scharen in die Hörsäle? Ein Ortsbesuch

VON BIRK GRÜLING

Es herrscht reger Betrieb im Café Neun der Leuphana Universität Lüneburg. Angefüllt mit Wissen strömen Studenten in die verdiente Mittagspause. Auch hinter Matthias Mayer liegen anderthalb Stunden mit Diskussionen über Hedonismus, Aristoteles und dem Kant’schen Ethikbegriff. Er legt sein schwarzes Notizbuch auf den Tisch und rührt den Kaffee im Pappbecher um.

„Ich genieße jede Seminarstunde. Hier wird Philosophie mit Anspruch gelehrt“, sagt der 49-Jährige und blickt auf seine mit Rotstift geschriebenen Notizen. Eigentlich ist der Lüneburger selbstständiger Werbetexter und entwirft Fernsehspots. „Meine wilden Jahre im Beruf sind vorbei. Mein Interesse an der Welt dort draußen ist längst größer als die Leidenschaft für Werbebotschaften“, sagt er. Gerade die Philosophie habe es ihm angetan. Neben seinem wöchentlichen Seminar zu Ethikbegriffen verschiedener Epochen hört er regelmäßig philosophische Video-Podcasts, also eine Art Gasthörer-Studium 2.0.

Durch seine Frau wurde er auf den „offenen Hörsaal“ aufmerksam. Für knapp 150 Euro pro Semester darf man bis zu acht Veranstaltungen aus dem regulären Vorlesungsverzeichnis besuchen und bekommt dafür einen Ausweis samt Bibliothekskarte. Mayer gehört dabei zu den rund 30 Prozent der Gasthörer, die noch im Beruf stehen. Viele nutzen das Angebot sogar zur beruflichen Fortbildung.

Doch für Mayer ist Philosophie „nur ein Hobby“. Trotzdem nimmt der studierte Kommunikationsdesigner seine zweite Uni-Karriere ernst. Alle Seminarstunden werden vorbereitet und die Texte gelesen. Er sieht den offenen Hörsaal als eine langfristige Perspektive. „Für den dritten Lebensabschnitt nach dem Arbeitsleben ist das ideal. Man bleibt geistig beweglich und füllt seine Tage sinnvoll.“

Eine Aussage, die auch Enno Hundack mit Nicken bekräftigt. Bis zu einer Pensionierung war der heute 72-Jährige Projektleiter bei einer Versicherung. Ein Job, der ihm immer Spaß gemacht und in Beschlag genommen habe. „Nach meinem aktiven Berufsleben war ich überrascht, wie viel sich doch in der Welt da draußen getan hat. Für die tief gehende Auseinandersetzung mit Themen hat mir einfach die Zeit gefehlt“, sagt Hundack. 1966 hat er selbst das letzte Mal in einer Universität gesessen, sein Mathestudium brach er damals ab. Bereits seit acht Jahren holt er das verpasste Wissen nun als Gasthörer nach, zuerst an der Uni Hamburg und jetzt in Lüneburg. Wenn Hundack von Vorlesungen beim Kunsthistoriker Wolfgang Kemp oder dem Philosophen Christoph Jamme schwärmt, spürt man seinen Lerneifer. Acht Stunden pro Woche besucht er Seminare, auf jedes davon bereitet er sich drei bis vier Stunden vor. Er habe sogar unter den Lehrenden Favoriten, „die ich jedes Semester zu belegen versuche“. Er genieße es, interessanten Menschen zu begegnen.

Gespräche mit den Studierenden, die problemlos seine Enkel sein könnten, gibt es dabei gelegentlich schon. Sich mit Wissen oder Lebenserfahrung aufzudrängen, liegt ihm aber fern. „Ich halte mich am liebsten im Hintergrund und übernehme Referate, die übrig bleiben.“

Für die heutige Studentengeneration hat er nur Lob übrig. „Die jungen Menschen haben viel auf dem Kasten. Dieser Optimismus und die Unbefangenheit, mit der heute gelernt wird, ist bewundernswert.“ Den „offenen Hörsaal“ möchte er noch so lange wie möglich besuchen.

Die Chancen dazu stehen gut. Laut Studien bleibt die Leistungsfähigkeit im Alter gerade durch regelmäßiges kognitives und körperliches Training erhalten. Und was trainiert die grauen Zellen besser, als am Montagmorgen über Ethik zu diskutieren?