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Istanbul, eine Stadt in Angst

Mord 39 Menschen sterben beim Anschlag auf den Club Reina, im Herzen der Stadt gelegen und Treffpunkt der säkularen Elite von Istanbul. Nun werden Vorwürfe laut, religiöse Kräfte hätten die Saat der Gewalt bereitet

Nach dem Anschlag auf den Club Reina: Ein Krankenwagen eilt durch die City von Istanbul Foto: Halit Onur Sandal/dpa

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Das neue Jahr war gerade eine Stunde und 15 Minuten alt. Im modänen Club Reina, direkt am Wasser des Bosporus gelegen, feierten ausgelassen etwa 700 Menschen.

Der oder die Attentäter töteten zuerst einen Wachmann und einen Polizisten am Eingang. Dann folgten wahllose Schüsse aus einem Sturmgewehr in die Menge. Zum Einsatz kam Kriegswaffenmunition mit Stahlkerngeschossen, die gegen ­gepanzerte Fahrzeuge ver­wendet werde, berichtete CNN-Türk.

Ein Mann soll Arabisch gesprochen haben, sagte ein Augenzeuge. Sie seien als ­Weihnachtsmänner verkleidet gekommen, lauten andere Aussagen. Das wird später dementiert. Der oder die Täter sind flüchtig.

Mindestens 39 Menschen sind tot.

„Hier ist ja gar nichts los“, wunderte sich am Silvestertag, Stunden vor dem Attentat, ein Passant der von der asiatischen Seite der Stadt in das noble Nişantaşı gekommen war. „Sonst war hier doch immer der schönste Rummel.“ Tatsächlich wirkte das noble Nisantasi oben auf dem Hügel über Beşiktaş am Abend reichlich verödet. Zwar hatte der Bezirk die Straßen für „Yılbaşı, “ wie die Feier zur Begrüßung des neuen Jahres in der Türkei heißt, mit vielen Lichtern schmücken lassen, doch von ­einer ausgelassenen Feierstimmung war nichts zu spüren.

In den vergangenen Jahren war das säkulare, reiche Nisantasi immer ein Hotspot für öffentliche Silvesterpartys, doch an diesem letzten Abend des Jahres 2016 herrschte auf dem Platz, wo sich sonst die Leute versammelten, gähnende Leere.

Auch im House-Cafe neben der Nişantaşı-Moschee, normalerweise ein beliebter Treffpunkt, war nicht viel los. „Die Leute bleiben in diesem Jahr lieber zu Hause“, sagte der Kellner mit einem Blick auf den Polizeipanzer, der demonstrativ vor dem Café parkte. „Es gibt ja auch nichts zu feiern.“

Wie sehr er mit dieser Einschätzung recht hatte, konnte er da noch nicht wissen. Noch waren es einige Stunden bis zum Jahreswechsel – und dem Blutbad im Reina. Doch waren Angst und die Ohnmacht vor der wachsenden Gewalt in der Stadt da schon zu spüren.

Hatte es nicht erst vor drei Wochen den verheerenden Anschlag am Fußballstadium von Beşiktaş mit 44 Toten gegeben – schon das neunte blutige Attentat in Istanbul innerhalb von nur zwölf Monaten? War nicht erst vor zehn Tagen der russische Botschafter von einem Islamisten mitten in Ankara ermordet worden? Führt Erdoğan nicht gleichzeitig Krieg gegen die PKK, die syrischen Kurden und dem IS im Norden Syriens? Und wurden nicht in den Moscheen der Stadt seit Wochen Silvesterpartys als unislamische, schändliche westliche Mode angeprangert?

Jetzt, nach dem Anschlag im Reina, beeilte sich Mehmet Görmez, der Diyanet Vorsitzende und damit die oberste muslimische Autorität des Landes, zu erklären, das Attentat sei eine brutale, unmenschliche Tat, die mit dem Islam nichts zu tun habe. Hatte er nicht, wie anonyme Twitter-Nutzer gestern fragten, mit den vorgegebenen Freitagspredigten mit zu dem Klima beigetragen, in dem ein Terroranschlag wie jetzt im Reina möglich wurde? „Geht nicht auf die Straße, lacht nicht, amüsiert euch nicht! Wer hat dieses Klima denn geschaffen?“, fragte der Istanbuler Abgeordnete der CHP, Barış Yarkadaş, am Sonntag.

Im Reina hatten sich jedenfalls am Silvesterabend diejenigen Menschen eingefunden, die in den Moscheen zuvor als unislamisch und unmoralisch angeprangert worden waren.

Die Reichen und Schönen der säkularen Istanbuler Gesellschaft, zusammen mit ausländischen Freunden und Bekannten, ­waren gekommen, weil sie davon ausgingen, dass dort ein geschützter Raum existiert. Sie sollten sich täuschen.

Unter den 39 Opfern sind 15 Aus­länder, Menschen aus Saudi-Arabien, Marokko, dem Libanon, Israel, Libyen und Jordanien. Auch ein Belgier soll getötet worden sein und unter den 65 Verletzten befinden sich drei Franzosen.

„Ich habe Angst vor 2017. Ich werde nicht mehr schreiben“

Hasan Cemal, ExChef von Cumhuriyet

Das Profil eines kaltblütig ­feuernden Täters, der sich rechtzeitig absetzte, passt auf ausgebildete IS-Kämpfer aus Syrien, zu denen auch Hunderte Türken gehören. Noch am Silvesternachmittag waren in Ankara zehn IS-Kämpfer festgenommen worden, die angeblich Attentate geplant hatten, doch der oder die Täter von Istanbul waren dem türkischen Geheimdienst offenbar entgangen. Obwohl, wie ein Twitter-Nutzer schrieb, das Reina sicher zu den drei bis fünf Objekten in Istanbul gehört, die vor islamistischen Anschlägen am stärksten gefährdet waren.

Die staatliche Anteilnahme an dem Attentat und den Opfern hielt sich gestern in Grenzen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan begnügte sich mit einer schriftlichen Erklärung und schickte Innenminister Süleyman Soylu und Gesundheitsminister Recep Akdağ vor. Soylu kündigte eine Großfahndung nach dem Attentäter an – er ging von nur einem Täter aus. Gesundheitsminister Akdağ rapportierte den Stand der Verletzten in den umliegenden Krankenhäusern.

Erdoğan warf in seiner Erklärung dem Attentäter und seinen Hintermännern vor, sie wollten Chaos verbreiten und die Moral und Einheit der Nation gefährden. Das werde aber nicht gelingen.

Diese Einheit gegen den Terror gibt es aus Sicht der meisten säkularen Türken aber längst nicht mehr. Sie haben Angst vor wachsendem islamistischen Einfluss im Land und fühlen sich vor dem Terror des IS nicht geschützt.

Die Cafés für den Neujahrsbrunch blieben in Istanbul am Sonntagmorgen leer, die Leute trauten sich kaum noch aus dem Haus. Hasan Cemal, früherer Chefredakteur von Cumhuriyet und einer der bekanntesten Autoren der Türkei, schrieb am Sonntag auf Twitter: „Ich habe Angst vor 2017. Ich werde in nächster Zeit nicht mehr ­schreiben.“

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