Europa Der französische Politikwissenschaftler Antoine Vauchez macht Vorschläge zur Demokratisierung der EU
: Europa anschieben

Bücher zum demokratischen Defizit der EU gibt es viele. Aber Antoine Vauchez hebt in seiner Diagnose der Demokratiekrise einen Aspekt hervor, der von anderen Autoren vernachlässigt wurde. Er beschäftigt sich nicht damit, „was gerade nicht existiert“, sondern analysiert das demokratische Potential von drei in der Demokratiebatte kaum präsenten Institutionen: dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission.

Man kann die drei Institutionen auch „die Unabhängigen“ nennen, denn sie verstehen sich, im Unterschied zu den politischen Organen der EU (Parlament, Europäischer Rat) als politikfern und unabhängig sowie als objektive Expertengremien. Dank ihrem rechtlichen Status und ihrem Selbstverständnis hielten sie sich weitgehend aus der öffentlichen Diskussion und aus Konflikten mit den anderen Organen heraus. Die Kommission wurde zunächst als technisches Sekretariat und der EuGH als Schiedsgericht zur Überwachung von Regeln des Binnenmarkts definiert. Auch die zuletzt (1998) hinzugekommene EZB darf nach ihrer Satzung „keine Ratschläge und Empfehlungen von Mitgliedern europäischer und nationaler Institutionen einholen oder entgegen nehmen“.

Auf die Frage, warum es mit der Demokratisierung in der EU nicht vorangeht, hat Vauchez eine doppelte Antwort. Einerseits liegt das an der „Heuchelei der Staaten“, die gerne die Brüsseler „Eurokraten“ für Dinge verantwortlich machen, die sie selbst beschlossen oder verhindert haben. Andererseits liegt das „europäische Projekt“ hauptsächlich in den Händen der drei „Unabhängigen“ und ihren Instrumenten, mit denen Zwischenstaatlichkeit tatsächlich organisiert wird. Allerdings sind die „Unabhängigen“ als politik- und legitimationsferne Expertengremien nicht besonders gut gerüstet, die Demokratie voranzubringen.

Im Gegenteil: In der europäischen Bankenkrise erwiesen sich die Richter, Zentralbanker und Kommissare als handlungsfähig, um den Bankrott von Banken und Staaten abzuwenden, aber ihre „europäische Legitimität“ und politische Verantwortung blieben fragil. Trotz der unbezweifelbaren Verdienste der „Unabhängigen“ überschätzt Vauchez wohl deren Bedeutung, wenn er von den „Zentralbankern“ als einem „neuen Typus von ‚Dienern Europas‘“ und einer „rationalen Form von Führerschaft“ spricht. Bevor Mario Draghi Europa und der EZB diente, war er führender Diener der Investmentbank Goldman Sachs Inc.

Vauchez räumt immerhin ein, dass „die Fähigkeit der ‚Unabhängigen‘, als Träger des gesamten europäischen Aufbauwerks zu fungieren“ nicht davon zu trennen sei, dass sie „dieses Werk ‚vereinnahmen‘“. Die Griechenland-Rettung, die faktisch eine Bankenrettung war, ist ein Beispiel für eine solche „Vereinnahmung“.

Demokratisierungspotenzial sieht Vauchez vor allem darin, die Auslegung des Mandats der „Unabhängigen“ nicht diesen zu überlassen, sondern das EU-Parlament sowie die politische Öffentlichkeit daran zu beteiligen. Der Weg dazu führt über mehr Transparenz bei den Institutionen der „Unabhängigen“ und eine breiter angelegte Rekrutierung des Personals. Im EuGH etwa gibt es bis heute keinen Juristen als Gewerkschaftsvertreter und in der Führung der EZB keine einzige Frau. Vauchez’ Essay besticht durch seine ebenso kenntnisreiche wie nüchterne Argumentation.

Rudolf Walther

Antoine ­Vauchez: „­Europa de­mokratisieren“. Aus dem Franz. von M. Halfbrodt. Hamburger Edition 2016, 136 S., 12 Euro