der rote faden
: Jetzt ist es tatsächlich passiert. Es fühlt sich ziemlich bescheuert an

nächste woche Saskia Hödl Foto: Sebastian Wagner

durch die woche mitNina Apin

Gerade hatte ich mir in Echtzeit angesehen, wie der russische Botschafter, der gerade noch auf einer Vernissage in Ankara in ein Mikrofon gesprochen hatte, unvermittelt aus dem Bild fiel, niedergestreckt von einem Pistolenschützen, der in seinem schwarzen Anzug posierte wie ein Tarantino-Killer: Arm mit Pistole theatralisch nach oben gestreckt; was er auf Türkisch rief, verstand ich nicht. Aber es hätte auch sein können: „And you will know my name is the Lord, when I lay my vengeance upon thee!“

Rache für Aleppo, präzisierte der Untertitel. Aber warum zeigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen seinen Zuschauern einen Mord? Den selbstgerechten Fanatismus eines erdoğantreuen Polizisten, für den die Unterstützung islamistischer Rebellen offenbar rechtfertigt, einen Menschen zu töten, dessen Dienstherr den alewitischen Machthaber unterstützt – hätte man den nicht auch begriffen, wenn man nur die Sequenz nach dem Mord gesehen hätte?

Rache für Aleppo

Keine zwei Stunden später dann die ersten Nachrichten vom Breitscheidplatz. Handy-Amateurvideos, erstaunlicherweise ohne grausige Details. Die Kommunikation in den sozialen Netzwerken: zunächst erstaunlich hysteriefrei. Die Rettungskräfte: an Ort und Stelle, die Polizei: hatte sofort einen Mann dingfest gemacht. Was für eine Effizienz, und ausgerechnet in Berlin, wo sonst so vieles nicht zu funktionieren scheint?

Wir waren vorbereitet – theoretisch. Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis es nach Paris, Brüssel, Istanbul auch Berlin erwischt. Seit Jahren gab es diese diffusen Warnungen vor einem Anschlag auf ein „weiches Ziel“. Und seit Jahren begleitet mich in der Vorweihnachtszeit ein unspezifisches Unwohlsein.

Weiche Ziele

Ich redete nicht groß darüber, aber fuhr extra nicht mit den Kindern zu einem der großen, touristischen Weihnachtsmärkte auf dem Alexanderplatz oder dem Breitscheidplatz. Und ich mied die großen Warenhäuser und den Hauptbahnhof so weit wie möglich. Letztes Jahr versetzte mich ein lauter Knall auf einem kleinen Weihnachtsmarkt kurzzeitig in Panik. Es war dann doch nur eine Gasflasche, die an einem Stand explodiert war.

Jetzt war es also tatsächlich passiert. Es fühlte sich scheußlich an. Und gleichzeitig deprimierend bekannt. Das ganze Jahr über hatte es Nachrichten von ähnlichen Anschlägen gehagelt. Und es erschien absehbar, welche Diskurse sich auch jetzt wieder hinterher entfalten würden: erst Betroffenheit, Anteilnahme, Trauer. Dann Wut. Von offizieller Seite und in den Leitartikeln die üblichen Durchhalteparolen: Wir lassen uns unsere offene Gesellschaft nicht kaputt machen / Unsere Freiheit ist stärker als der Hass/ Je suis Berlin. Schließlich die Versuche, das Geschehen politisch zu vereinnahmen: Merkels Tote. Merkel muss weg. Mehr abschieben. Auf der anderen Seite: Bloß kein Generalverdacht! Nicht zuletzt die hilflosen Ankündigungen: mit „aller Härte des Gesetzes“, „entschieden vorgehen“. Alles so vorhersehbar, so sinnlos.

Generalverdacht

Mehr Emotion legten dagegen die türkisch-arabischen Jungs an den Tag, die immer vor der Tür eines islamischen Kulturvereins im Nebenhaus stehen. Dort und vor dem benachbarten Späti hatte sich eine kleine Traube gebildet. Smartphone-Videos kursierten, mein Freund behauptete später, es seien Aufnahmen mit blutigen Details vom Tatort gewesen. „Wallah, der Hurensohn“, schrie einer. Ein anderer schüttelte fassungslos den Kopf: „Ausgerechnet in einen Weihnachtsmarkt. Wer macht denn so was Krankes?“

Seltsamerweise stimmte mich die Wut der Nachbarsjungs froh. Sie waren auf unserer Seite! Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mir dessen keineswegs sicher gewesen war, hatte ich doch ihre Blicke bislang als eher feindselig gedeutet.

Gefühlskalt

Es gab noch mehr Überraschungen: Für einen Bekannten, der politisch sonst auf keine Weise nach rechts tendiert, war hingegen klar: „Jeder von denen ist doch ein potenzielles Risiko. Je weniger hier leben, desto geringer das Risiko.“ Das Gespräch endete mit einem lautstarken Streit darüber, ob die massive Zuwanderung der letzten Jahre in signifikanter Weise das Kriminalitätsrisiko erhöht hat – oder ob das nicht einfach populistisches Geschwätz ist.

Ein argentinischer Freund beschwerte sich bei mir über Merkels „unterkühlte“ Rede. Ich schaute ihn verständnislos an: „Gedenkgottesdienst, Kondolenzbuch … Was soll sie noch tun – in Tränen ausbrechen?“ Kalt seien wir Deutschen, erwiderte er. Auf unseren Handys erscheint die Meldung, dass der mutmaßliche Mörder vom Breitscheidplatz am Freitagvormittag in Mailand bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet wurde.