Abgründe Zwischen Himmel und Hölle: die Novellen des ungarischen Schriftstellers Lázló Darvasi: Der Winter naht – und wo ist die rettende Wärme?
Man dürfe Gott nicht vergessen, heißt es gleich zu Beginn in Lázló Darvasis neuem Buch, der nachhaltig aufwühlenden, verstörenden, rundum brillanten Novellensammlung „Wintermorgen“.
Ambivalente Vorstellungen ruft der Titel hervor. In einem warmen Budapester Hotelzimmer mit Blick auf den Burgberg aufzuwachen etwa, Darvasis Buch auf dem Nachttisch und leise den Schnee auf den königlichen Palast rieseln zu sehen. Oder man assoziiert die Eiseskälte, die so ein Wintermorgen beschert, heftige Minusgrade, die im Extremfall Todesopfer fordern. Eine solche Ambivalenz steckt im Grunde in jeder Novelle dieses Bandes. Darvasis Sprache, von Heinrich Eisterer sehr sicher ins Deutsche übertragen, ist betörend poetisch, sie weist weit über ihren Gegenstand hinaus. So schön wie rätselhaft. Ihr jeweiliger Gegenstand aber hat mit romantischen Schneelandschaften so gar nichts zu tun. Eher mit morbiden, kruden und auch grotesken Stürzen in Abgründe, ins Bodenlose oder nennen wir es Hölle. Nicht umsonst geht auf dem Buchcover ein Stuhl in Flammen auf.
Albträume in Ungarn
In einer der Novellen geht es um einen Vater, der in einem Pornoclip die eigene Tochter erkennt und, anstatt schockiert zu sein, die Filme, in denen die Tochter mitwirkt, immer wieder anschaut. „Ich brumme vor mich hin, Töchterchen, du fehlst deinem Papa sehr“, lautet der letzte Satz – ein fieser Schlag in die Magengrube. Darvasis Humor ist schwarz, mitunter derb. In „Der Sturz“ wird ein querschnittsgelähmter Alter von seinem Sohn, weil nutzlos, auf dem Markt verscherbelt, von einem „Kleinkiller“ unter die Fittiche genommen und gemeuchelt. Die wahre Geschichte des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter über Jahre unterirdisch gefangen hielt, missbrauchte und mit ihr sogar Kinder zeugte, könnte auch in „Wintermorgen“ stehen.
Es sind Albträume, die der 1962 geborene und in Budapest lebende Darvasi beschreibt, der zu den herausragenden Schriftstellern Ungarns zählt – wovon man sich zuletzt anhand des ins Fantastische driftenden Romans „Blumenfresser“ überzeugen konnte. Wo dieser um historische Ereignisse kreist, fokussiert „Wintermorgen“ die ungarische Gegenwart, eine Gegenwart prekärer gesellschaftlicher Schieflagen, des Fremdenhasses und der populistisch-nationalistischen Regierung Viktor Orbáns.
Ohne die Vergangenheit, zumal die österreich-ungarische, ist sie nicht zu denken. So fühlt man sich auch an den österreichischen Filmemacher Michael Haneke erinnert, an Ingeborg Bachmanns „Todesarten-Projekt“ und nicht zuletzt an die sprachlichen Gewaltorgien Elfriede Jelineks.
Das tabulos Grausame
Anders aber als bei Jelinek – oder auch den Amerikanern Bret Easton Ellis und Chuck Palahniuk – wirkt das tabulos Grausame bei Darvasi weniger vordergründig. Vielleicht erscheint die Auseinandersetzung tiefer, weil sie ambivalenter funktioniert. Denn in der frostigen Kälte ist hier immer wieder eine rettende Wärme zu spüren.
Tatsächlich darf man bei all dem Gott nicht vergessen. Letztlich stellt Darvasi die alte Leibniz‘sche Theodizee-Frage, wie ein guter Gott mit dem Übel der Welt zusammengeht. Eine depressive Antwort formuliert der Autor in „Mein kleiner Bruder und ich“: Seit Gott den Menschen „aus sich selbst extrahiert“ habe, könne er „mit dem in seinem Wesen entstandenen Mangel nichts anfangen“. Eine bessere Antwort geben die Novellen als solche.
Darvasi zu lesen ist wie unter Strom gesetzt zu werden. Mal kribbelt es unter der Haut, mal spürt man Schläge, ohne jedoch das Buch aus der Hand legen zu können. Es elektrisiert. So und so. Tobias Schwartz
László Darvasi: „Wintermorgen“. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 348 Seiten, 24 Euro
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