Er war mein Kanzler

Gerhard Schröder wollte als Bundeskanzler den Sozialstaat abschaffen und gleichzeitig das Gefühl für ihn erhalten. Wir sollten eine Gemeinschaft bleiben, auch wenn das Geld alle ist. Ein letztes Hurra

VON JOACHIM LOTTMANN

Gerhard Schröder hat es also getan. Er ist zurückgetreten. Oder hat den Platz zumindest frei gemacht. Er hat in einer letzten quälenden Kraftanstrengung, die ihn zunächst einmal seine Reputation kostete, was er wusste, Merkel verhindert. Womit er nicht eine bestimmte Person verhindert hat, sondern den Nimbus des CDU-Sieges. Nicht die CDU hat gewonnen und führt nun das Land, einen Juniorpartner hinter sich herziehend. Nein, im Bewusstsein der Massen ist es nun, da auch die Merkel weg ist, unentschieden ausgegangen.

Das ist unendlich wichtig für die Zukunft. Alle künftigen Erfolge werden dadurch beiden Parteien gleichermaßen zugeschrieben. Jedenfalls bei Wahlen. Wie sieht das Land jetzt aus?

Wir haben eine große Koalition. Auch das ein Ziel, das der Kanzler ab Mitte Mai verfolgt hatte. Genauer gesagt: sein heimliches, sein eigentliches, ja damals einziges Ziel. Er wollte niemals Kanzler bleiben (New York, here we come). Nein, er wollte seine Partei, die er mehr liebt als alle anderen und als alle wussten, vor dem historischen Untergang bewahren – indem er sie hineinrettet in den großen Verbund.

Daher die coupartigen Neuwahlen. Gegen einen unsortierten Gegner, gegen eine Verlegenheitskandidatin, die gegen die eigenen Leute zu kämpfen hatte. Ein Jahr später, gegen Christian Wulff, wäre die SPD bei 24 Prozent gelandet. Übrigens auch deswegen, weil die wirtschaftlichen Daten bis dahin noch schlechter gewesen wären.

Wie hätten sie auch besser werden sollen? Unsere Wirtschaftsentwicklung ist seit 15 Jahren geprägt durch die Sonderleistungen für die neuen Bundesländer, jährlich ein dreistelliger Milliardenbetrag. Ein ungeheurer Standortnachteil, der uns gegenüber England, Frankreich, der EU und der ganzen Welt zurückfallen lässt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen, kein Gesetz, keine Weltkonjunktur, kein „Ruck“, keine „Du bist Deutschland!“-Kampagne. 125 Milliarden Euro sind einfach unfassbar viel Geld. Selbst Boomland China würde mit dieser Bleikugel am Fuß unrettbar absaufen auf den tiefsten Grund des Sees.

Ich muss zugeben, dass ich Schröderist bin.

Insofern unterscheide ich mich von dem Celebrity-Journalisten Ulf Poschardt – aber nur darin. Seine Beurteilung der SPD und vor allem der Intellektuellen in ihr teile ich vollkommen (taz vom 30. September). Was für ein verkommener Haufen inzwischen, was für Verräter am lebendigen Geist! Was hat es noch mit dem Gedanken der europäischen Aufklärung zu tun, in Zeiten echter Not die Besitzstände der Privilegierten dogmatisch zu verteidigen, die Unkündbarkeit der Arbeitsplatzbesitzer, die fetten Pensionen und weiter steigen sollenden Renten, die absurd hohen Löhne der gewerkschaftlich Organisierten, die staatlich finanzierte Villa, die 50.000-Euro-Titanhüfte für die 90-Jährige, während die 19-Jährige auswandern muss, weil es keine erlaubte Arbeit für sie gibt, und so weiter.

Das alles hat Poschardt sehr schön ausgeführt. Einige seiner lebendigen Beispiele funkeln richtig vor Wahrheit. Etwa wie der PDS-Mann ihm gesteht, er fürchte sich vor dem unausweichlichen Moment, da sie über Sozialmissbrauch sprechen müssten in ihrer hübschen, idealistischen Partei. Auch ich hatte solche Erlebnisse, und sie häufen sich.

Zum Beispiel der neue WASG-Altgewerkschafter im Bundestag, der mir zornrot zuruft, ob ich mir überhaupt vorstellen könne, wie man als einfacher Stahlarbeiter mit 3.500 Euro im Monat eine ganze Familie durchbringen solle?!

Der 60-Jährige hatte offenbar keinen Kontakt zur Generation der heutigen urbanen 25- bis 35jährigen. Er weiß nicht, dass diese Leute nicht einen, sondern unendlich viele Jobs machen, und trotzdem unter 1.000 Euro im Monat bleiben. Familie durchbringen? Davon können die nicht einmal träumen. Oder der Moment im SPD Juso-Treff im avantgardistischen Berlin Friedrichshain, als ein extra eingeladener Gastredner von den Jungen Grünen namens Stephan Schilling aus dem Stand heraus eine halbe Stunde über das Erbrecht und Wege zum Brechen desselben referiert, mitreißend, politisch, realistisch, und der ebenfalls eingeladene MdB Klingenbeil (SPD) stumm bleibt wie ein Fisch: ahnungslos, links, langweilig.

Auf die Frage, ob er an dem immer gleichen, immer utopischen, seit 30 Jahren verfehlten Wahlziel „Vollbeschäftigung“ festhalte, allen Fakten zum Trotz, kratzt er sich an seinem „bescheidenen“ hochgekrempelten Baumfällerhemd, reibt die offene Bierflasche an seiner Jeans und sagt endlich: „Ja.“

Mehr fällt ihm nicht ein. Später ereifert er sich darüber, dass Lafontaine das Wort „Fremdarbeiter“ gebraucht habe. So viel zur deutschen Linken heute.

Wie aber kann man trotzdem Schröderist sein, und warum muss man es sogar sein? Weil der Gerd mehr ist als nur ein Politiker. Er verkörpert als Einziger und Letzter das Prinzip der (von ihm oft beschworenen) „Teilhabe“. Ich glaube, das Wort hat sogar er erfunden. Er ist der Letzte, der die kleinen Leute überhaupt noch erreicht. Joschka Fischer war der Vorletzte.

Schröder stand für den atemberaubenden Versuch, den Sozialstaat abzuschaffen und gleichzeitig das Gefühl für ihn zu erhalten. Also eine Gemeinschaft auch dann zu bleiben, wenn das Geld alle ist. Seine im Wahlkampf bis zur Unerträglichkeit wiederholte Floskel „die sozialen Sicherungssysteme neu justieren, OHNE den sozialen Zusammenhalt aufzugeben“ war tatsächlich bitter ernst gemeint und meinte genau das. „Neu justieren“ meinte natürlich weitgehend aufgeben, und „sozialen Zusammenhalt behalten“ meinte: die ausbleibenden Gelder durch Nachbarschaftshilfe, praktisches Gemeinschaftsverhalten, Nächstenliebe, mit einem Wort: durch eine neue entfachte Solidarität auszugleichen.

Für einen solchen Umbau der Gesellschaft gab es nur einen Führer, der das vermitteln konnte, eben den Mann aus Hannover, das Kriegskind, vaterlos, von Mutter „Löwe“ großgezogen, einer Putzfrau, die im Dorf als asozial diffamiert wurde. Dieser Mann war mehr als ein Symbol für den sozialen Aufstieg. Dieser Mann war wie kein zweiter: Deutschland. Um das zu verstehen, muss man sich das Land einmal ohne ihn vorstellen. Politmanager laufen herum, deren größtes persönliches Risiko, das sie je eingegangen sind, der Besuch einer Juravorlesung ohne Krawatte gewesen ist. Leute ohne Biografie. Ohne Tore als Mittelstürmer „Acker“ im FC Lehrte. Ohne Hillu, ohne Doris, ohne Currywurst und ohne Kain-und-Abel-Bruderkampf mit Lafontaine.

Leute wie Volker Kauder.

Weißhaarig schon mit 40. Nur eine ganz bestimmte eingeschränkte Sorte Mensch vertritt auch die übrigen 81 der insgesamt 82 Millionen Bundesbürger: der jurastudierende, faktengläubige, besserwissende, humorlose leitende Angestellte. Schröder war der Letzte, der noch die anderen erreichte, die Nichtbüromenschen. Der Hallen und Marktplätze füllte.

Ich kann es meinen Kindern dereinst erzählen: Gendarmenmarkt, zwei Tage vor der Wahl. Ein Gefühl wie in Soweto nach der Freilassung Mandelas. Ein unfassbar heftiger, eisiger, ungemütlicher Spätherbstplatzregen, aber die vielen zehntausend tanzen, schwenken ihre selbst gemalten Plakate, werfen mit Stofftieren, singen, hüpfen rhythmisch auf und ab. Schröder hat Doris im Arm, sie gehen zu Fuß Richtung Bühne, übertragen von der Großleinwand, der Jubel schwillt an, überschlägt sich bei den Worten des hysterischen Ansagers: „Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder!!“

Den nächsten Kanzler werden nur eingeladene Berufsparteimitglieder müde beklatschen. Wahrscheinlich heißt er Koch und macht’s zusammen mit Peer Steinbrück. Er wird tun, was zu tun ist. Also den Sozialstaat de facto abschaffen. Den Osten dichtmachen. Da einigt man sich in zehn Minuten mit der SPD, auf der Herrentoilette des Bundestags, ruckzuck. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit kennen die Herren die Lage. Niemand tut es gern, aber zum ersten Mal hat man die nötige Zweidrittelmehrheit. Also die Grausamkeiten schnell begehen, bevor die Lage sich wieder ändert. Zum ersten Mal hat die Wirtschaft wieder eine Chance. Keiner meckert, keiner meutert. Und nach vier Jahren ist weder die SPD der große Arbeiterverräter noch die CDU die Partei des neuen Wirtschaftswunders. Sie sind beide beides.

Fazit: Deutschland ist gerettet und die SPD nicht zerstört. So wie die Deutschen ticken, geben sie ihr das nächste Mal sogar die Mehrheit. Schröders Leistung dabei werden die Historiker eines Tages erkennen. Nämlich wenn das Bismarckdenkmal in Hamburg geschleift und durch ein Gerharddenkmal ersetzt wird – von einer Bürgerinitiative Millionen wacher kleiner Leute.

Ich weiß, das glaubt mir jetzt keiner. Und meine Freunde werden sagen: „Alles gut und richtig, aber in der Wahlnacht hätte er sich nicht so aufführen dürfen.“ Das ist der Punkt, über den kein Deutscher mehr hinwegkommt. Denn Politiker dürfen sich nicht freuen bei einem sensationellen Sieg. Sie müssen in der Stunde des größten Triumphes ein Gesicht machen wie Stoiber: staatstragend, verklemmt, oft „Äh“ sagen und von „Verantwortung, der man sich, äh, nicht wird entziehen können“ faseln. Sie dürfen um Gottes Willen nicht zwei Flaschen Champagner binnen einer Stunde trinken, wie der Gerd es getan hat.

Aber er war mein Kanzler.

Nachtrag: Ich traf den Schriftsteller Rainald Goetz, und der meinte: Der Schröder hat die Merkel erst stark gemacht. Ich sage dazu: hätte der Kanzler auch nur fünf Minuten später seinen scheinbar irren Moment gestartet, wäre die Kanzlerschaft Merkels ein irreversibler Selbstläufer geworden. Die Medien hätten die Frau in der Wahlnacht zur Kanzlerin ausgerufen – wie einst Bush bei seiner Wahl gegen Al Gore. Nein, sie wird es nicht, dem Gerd sei Dank!

JOACHIM LOTTMANN, 49, Schriftsteller („Die Jugend von heute“), arbeitet derzeit an der Romandoku „zombie nation“.