Polizei wird zum Buhmann

GASTKOMMENTAR Zeigen Schulen Kinder bei der Polizei an, werden Lehrer entmachtet. Für Hamburgs Ex-Jugendhilfe-Leiter ist das bloß eine Scheinlösung im Umgang mit Gewalt

Der falsche Weg: Polizei wird in Hamburg als Knecht Ruprecht missbraucht Foto: Maurizio Gambarini/dpa

Von Wolfgang Hammer

Kinder werden schon im Grundschulalter bei der Polizei angezeigt, ihre so genannten Straftaten über Jahre im Computer gespeichert. Diese nicht nur in Hamburg verfolgte Strategie im Umgang mit Gewalt von Kindern hat erhebliche Schwächen.

So wichtig und richtig schnelles Reagieren auf gewaltsame Übergriffe von Kindern auch ist: Nichts ist schädlicher als standardisierte Reaktionsmuster. Die werden weder dem Einzelfall gerecht, noch lassen sie den pädagogisch Handelnden die nötigen Spielräume, wie sie reagieren. Bei der nun aus Hamburg bekannt gewordenen Praxis, ist aber genau das der Fall.

Die Schule des neunjährigen Leo hatte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung angezeigt. Er sei zwar zu jung, um als schuldfähig zu gelten, dennoch müsse die Polizei den „Sachverhalt nachprüfen, eine begangene Straftat erforschen und die dafür Verantwortlichen ermitteln“, heißt es in dem Schreiben, das Leos Mutter von der Polizei bekam: Sie wurde mit Leo auf die Wache gebeten.

Dass das gerade in einer Stadt geschieht, die mal bundesweit führend in der Umsetzung von Konzepten zur Strafvermeidung und bei Gewaltpräventions-Programmen im Kindesalter war, zeigt, wie anfällig Politik für Scheinlösungen ist und wie wenig Rationalität gerade im Umgang mit Gewalt besteht.

Gewaltsames Verhalten – auch das von Kindern – ist immer ein Eingriff in die körperliche und seelische Unverletzlichkeit anderer Menschen. Das muss natürlich auch jedem Kind unabhängig von den Ursachen und Anlässen verdeutlicht werden.

Die dann notwendige angemessene Reaktion auf gewaltsames Verhalten von Kindern setzt aber voraus, den Zusammenhang zu kennen, in dem gewalthaftes Verhalten eines Kindes geschehen ist. Dazu sind die individuellen, familiären und gruppenspezifischen Verursachungszusammenhänge – zum Beispiel Mobbing in der Schule – und der Grad der Gewaltausübung zu klären und zu bewerten. Daraus sind pädagogische Konsequenzen abzuleiten, die meist nicht nur das jeweilige Kind betreffen.

Wolfgang Hammer

Foto: Miguel Ferraz

68, Soziologe, leitete von 1982 bis 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde. Von 2008 bis 2009 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe Gewalt von Kindern und Jugendlichen des Nationalen Aktionplans für ein kindergerechtes Deutschland im Auftrag der Bundesregierung.

Gerade deshalb müssen sich diejenigen, die die Erziehungsverantwortung haben, also die Eltern und die Lehrerschaft, gemeinsam dieser Aufgabe stellen. Nur sie und nicht die Polizei verfügen über die Kenntnisse und Erfahrungen über das Kind und die Umstände, die zu angemessenen Konsequenzen führen.

Die Polizei als Knecht Ruprecht zu missbrauchen und Lehrerinnen und Lehrer pädagogisch zu entmachten, ist genau der falsche Weg. Die Speicherung von Daten bei der Polizei ist unabhängig von der rechtlichen Bewertung kontraproduktiv. Sie gibt jedem gewaltförmlichen Verhalten von Kindern den Stempel „kriminell“ und verfolgt sie im Zweifel bis in die Strafmündigkeit. Aus der kriminologischen Forschung wissen wir aber, dass genau dies die gegenteilige Wirkung hat – nämlich nicht präventiv wirkt, sondern im Gegenteil Delinquenz verstärkend.

Auch die Polizei sollte vor solch einer Rollenzuweisung geschützt werden. Denn die präventive Polizeiarbeit setzt auf Information und Kooperation mit Schulen und Jugendeinrichtungen – sie muss auch im Bewusstsein von Kindern als Institution der Hilfe und der Strafverfolgung ab der Strafmündigkeit wahrgenommen werden. Die Polizei sollte nicht zum Buhmann gemacht werden, während der Schule und den Eltern die angemessene und unmittelbare Reaktion auf gewaltsames Verhalten abgenommen wird.