: Ein Gutteil der Schwermut
GESCHICHTE "Die neue Odyssee", eine Buchreportage des Briten Patrick Kingsley über Ursachen der Flüchtlingskrise
Patrick Kingsley
Bald nachdem man begonnen hat, Patrick Kingsleys „Die neue Odyssee“ zu lesen, befällt einen Schwermut. Kingsley ist Migrationskorrespondent beim britischen Guardian, seine Reportagen erzählten immer davon, dass die in London erscheinende Zeitung eine der wenigen Publikationen ist, die Migration so ernst nahmen, dass sie ihr einen journalistischen Schwerpunkt zuordneten.
Der Autor hat für seine „Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise“ 17 Länder bereist, mit Verschleppten gesprochen, Flüchtlinge begleitet, Fluchtursachen recherchiert, Schmuggler beim Geldverdienen beobachtet. Er hat Polizisten in Niger befragt, die grausame östliche Route durch die Sahara nachgezeichnet, freiwillige Helfer begleitet. Er berichtet von den Mittelmeerküsten, zeichnet eines der schlimmsten Schiffsunglücke in jüngerer Zeit nach – Kingsley traf einen Überlebenden in einem Aufnahmelager in Sizilien.
Eine Geschichte von Qualen und Schmerzen ist es, von Alternativlosigkeit und Aufbruch. Und Kingsley erzählt die Odyssee von Haschem al-Souki, Ehemann und Familienvater, der in syrische Folterkeller geriet, mit Glück und seiner Familie nach Ägypten fliehen konnte und erst in Schweden, während er sechs Wochen auf ein Asyl wartet, verzweifelt zu weinen beginnt.
Neben den Geschichten der Flucht sind Kingsleys Beobachtungen auch die Geschichte einer Absage an Zivilität und Solidarität der europäischen Politik: „Die Bezeichnung ‚Flüchtlingskrise‘ ist in gewisser Weise irreführend. Es ist eine Krise, aber diese wurde zum großen Teil durch unsere Reaktion auf die Flüchtlinge und weniger durch die Flüchtlinge selbst ausgelöst.“
Der Zustrom, der sich lange abgezeichnet hatte, und der 2015 „nur ungefähr 0,2 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung von 500 Millionen“ ausmachte, wäre vom reichsten Kontinent der Erde verkraftbar gewesen: „Wenn – und nur dann – sachgemäß und angemessen damit umgegangen wird.“ Gerade diese Aspekte machen einen Gutteil der Schwermut aus: Kingsley schaut sich die österreichische Außenpolitik an, zeichnet die Brüsseler Verhandlungen im Herbst 2015 nach, überblickt Positionen der Regierungschefs – dennoch müssen manche Einschätzungen etwas blauäugig wirken: „Hätten die Politiker ein System zur organisierten Massenumsiedlung entwickelt und wäre dieses System schnell genug und im erforderlichen Umfang eingerichtet worden, wäre Europa vielleicht imstande gewesen, die chaotischsten Aspekte der Krise einzudämmen. Ein solches System hätte vielen Migranten Anreize geboten, kurzfristig im Nahen Osten zu bleiben und ihre Hoffnung auf einen formellen Umsiedlungsprozess zu setzen. Dies hätte es Europa ermöglicht, sich planvoller auf ihre Ankunft vorzubereiten.“
Was natürlich voraussetzt, dass verantwortliche Politiker in Europa Interesse an der Lösung einer Katastrophe haben, an der mindestens 65 Millionen Menschen beteiligt sind, und nicht nur die Stimmung in ihrem Wahlkreis oder dem eigenen Land verwalten wollen. Vielleicht ist dies auch der einzige Kritikpunkt an Kingsleys Recherche – wenn Politik komplementär zu Flucht und Migration die europäische Krise bildet, bleibt sie etwas unterbelichtet, Kingsley kommt über Allgemeinplätze zum politischen Betrieb und dem Mangel an Pragmatismus nicht recht hinaus. Dafür wird er sicherlich bald Gelegenheit haben, er schätzt, dass sich in den nächsten Jahren noch einmal zwei bis drei Millionen Flüchtlinge nach Europa aufmachen werden.
Dennoch ist „Die neue Odyssee“ schon jetzt eine Wasserscheide: Wer den Band gelesen hat, wird sich schwertun mit dem Ressentiment, dass einem zum Thema entgegenschlägt.
Lennart Laberenz
Patrick Kingsley: „Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise“. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Werner Roller. C. H. Beck, München 2016, 332 Seiten, 21,95 Euro
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