Der schwarz gemalte Rausch des Highway-Folks

KonzertStatt des bekannten Dark Folks spielte Marissa Nadler im Privatclub neue Alternative-Country-Nummern

Ich kam mit der Galeere, um die mit der Harfe zu sehen. Die mit der Harfe stand am Kai und spielte, während die Zuhörenden unten auf ihre Hände starrten, die geschwind und galant über die Saiten strichen. Die Musik, die diese Hände spielten, zog Schleifen, was an den Pedalen lag, die die Frau mit der Harfe wie nebenher bediente. Manchmal schien es, als könnte sie ihre langen blonden Haare mit den Saiten verwechseln (in den Pausen strich sie sich immer mal eine Strähne fort) oder als würde sie vor Scham auf den Boden schauen. Dann aber, als ihre uferlosen Stücke zu Ende waren, strahlte sie ins Publikum und bedankte sich herzlich und gänzlich unverstärkt. Denn ihr Instrument brauchte Mikrofonierung, sie jedoch nicht. Ihr Name: Mary Lattimore.

Mary Lattimore spielte im Vorprogramm von Marissa Nadler am Montagabend im Privatclub an der Skalitzer Straße in Kreuzberg, in der Nähe der Post. Sie spielte also Harfe mit Fußpedalen (vor allem Loop und Revers) und sang nicht; ihre Musik pendelte zwischen Ambient und New Age, ohne in Kitsch auszuarten – natürlich tauchten sowohl die Namen Joanna Newsom als auch Enya am Horizont auf, ohne jedoch die Deutungshoheit über diese Musik wirklich übernehmen zu können. Dafür baute Lattimore immer wieder zu viele Schrägheiten ein.

Souverän, einfühlsam

Einmal am Hafen, konnte man am Horizont auch schon eine Reitergruppe ausmachen, die von den Bergen heruntergeritten kam, angeführt von einer schwarzhaarigen Frau. Marissa Nadler hat sich für diesen Abend für die männliche Seite entschieden. Diese männliche Seite trägt Bart, Mähne, Backenbart oder eine pudelartige Frisur plus Kassenbrille aus den 70ern und spielt sonst bei der Alternative-Country-Band Earth. Auf dieser Tour, nach ihrer neuen Platte „Strangers“, sind die drei gestandenen und an sich recht feschen Männer jenseits der 40 die Backing Band für die Chanteuse vorne. Und sie machten ihren Job gut. Souverän, einfühlsam, unterstreichend.

Nur: Wo war das Flirrende, die darke und weibliche Seite Amerikas, der schwarz gemalte Rausch dieses Highway-Folks, für den Nadler immer so geliebt wurde? Sicher, am Anfang, im „ruhigen Teil“ des Sets, spielt sie noch mal diese Nummern, bei denen man sich fragt, wie sie auf ein gewöhnliches Country-Club-Publikum in den Südstaaten wirken würden. Ob sie es wagen würden, die zierliche, aber feste Nadler vorne mit Bier zu bewerfen.

Leuchtende Ferne

Aber es ist nicht nur der Dark Folk, der ihnen wohl Mühe bereiten würde – auch die anschließenden Alternative-Country-Nummern, in konservativem Bandsetting gespielt, gern auch mit Bügelbrett (Pedal Steel Guitar) oder einem Siebziger-Gedächtnis-Solo verziert, verstören durch ihre Langsamkeit. Um nicht Langweiligkeit zu sagen.

Es ist Winter in Berlin, früher Winter, mal ist es kalt, mal nasskalt, schön ist es jedenfalls nicht. Nadlers Musik, die man sich für melancholische nächtliche Autofahrten in Richtung einer leuchtenden Ferne – etwa der Fahrt gen Los Angeles wie im Song „Drive“, einem meiner Lieblinge, der nichts mit dem gleichnamigen Song von R.E.M. zu tun hat – vorstellen kann, passte irgendwie nur mühsam in die Atmosphäre.

Sie coverte „Cortez the Killer“ von Neil Young, aber es wurde nicht recht klar, warum. Nadler freute sich sichtlich über ihre Band, die, wie gesagt, einen ordentlichen Stiefel spielte und gut aussah dabei. Aber dieser konservative Backlash wird sich als Irrweg herausstellen. Ich jedenfalls verließ die Spelunke, blickte ein letztes Mal milde enttäuscht über den Hafen hinweg und setzte mich nach Hause ab. Es wurde Zeit. René Hamann