Mit den Ohren lesen müssen

Seit fünfzig Jahren bringt die Westdeutsche Blindenhörbücherei die Welt der Literatur nach Hause. Trotzdem: Blinde sind in Deutschland vom Grundrecht auf Informationen weitgehend ausgeschlossen

„Blinde Menschen nehmen mit Hörbüchern wieder am Leben teil“

AUS MÜNSTER JOSEFINE FEHR

Außer Harry Potter boomt das Hörbuch wie keine andere Sparte der deutschen Verlagsbranche. Der Imagewechsel vom „Nischenprodukt“ für Sehbehinderte zum „Medium für alle“ ist vollzogen. Für Blinde und Sehbehinderte aber sind Hörbücher kein Trend. „Für sie sind Hörbücher eine Möglichkeit wieder am Leben teilzunehmen“, sagt Francois van Menxel. Er ist Geschäftsführer der Westdeutschen Blindenhörbücherei (WBH) in Münster, Herausgeber von etwa 20.000 „sprechenden“ Büchern – vorgelesen für Menschen, die die Zeilen selbst nicht lesen können. Weil sie blind sind oder sehbehindert, oder so krank, dass sie kein Buch mehr festhalten können. In diesen Tagen feiert die Blindenhörbücherei ihr 50jähriges Jubiläum.

Weit draußen, am Stadtrand von Münster, versteckt in einem Industriegebiet zwischen Lagerhallen und Werksgeländen, hat die ungewöhnliche Bücherei ihr Domizil. Hier gibt es wenig, das an eine „normale“ Bibliothek erinnert. Keine Bücher, kein Papier, keine Lesesäle – niemand der in Regalen stöbert. Im Eingangsbereich ein Schalter mit Glasscheibe. Umrankt von Topfpflanzen führt eine schmale Treppe in die erste Etage. Blindengerecht ist dieser Bau nicht. Muss er auch nicht sein, denn blinde „Leser“, Kunden, die sich Bücher ausleihen möchten, kommen nie hierher. Die „Bücher“ werden per Post verliehen.

Liebesgeschichten, Krimis oder Klassiker, Biographien und Sachbücher, das Angebot ist umfangreich, wenn auch mit dem einer Stadtbücherei nicht zu vergleichen. Jedes Buch, jede Zeile, vom Impressum bis zum letzten Wort wird vorgelesen. Gespeichert auf Kassetten oder CDs verschickt die WBH die Hörbücher in kleinen grünen Paketen in alle Teile des Landes, hin und wieder sogar ins Ausland. Das Ausleihen der Bücher ist kostenlos. Ein Service, der den Blinden das Ausleihen überhaupt erst möglich macht. Ausgesucht und bestellt wird per Telefon oder per Post.

„Im Sessel bestellt, im Sessel gelesen“, so beschreibt Francois van Menxel das einfache Prinzip. Er ist seit vierzehn Jahren Geschäftsführer der WBH. Jahr für Jahr gibt sie einen Katalog heraus in dem alle Bücher aufgelistet sind, sortiert nach Sachgebieten. „Viele Leser suchen aber gar nicht ein bestimmtes Buch“, erzählt van Menxel: „Die rufen dann einfach an und sagen‚ schicken Sie mir irgendwas Schönes, eine Liebesgeschichte zum Beispiel‘.“ Dann suchen die Mitarbeiter der WBH etwas heraus. Das Computer-System hilft ihnen darauf zu achten, dass keiner der rund 8.500 Kunden ein Buch bekommt, das er schon einmal gehört hat.

Im Archiv der WBH stehen dann doch lange Reihen von Regalen. Ungefähr 11.500 Kopien, der 3.000 digitalen Hörbücher, die auf Mp3-CDs gespeichert sind lagern neben etwa 100.000 Kassettenboxen. Erst seit drei Jahren werden die Hörbücher digital gespeichert. Der Vorteil der digitalen Methode: Auf eine Kassette passen 90 Minuten vorgelesenes Buch, auf eine CD 35 Stunden. Die Produktion einer CD ist außerdem wesentlich billiger, das Kopieren nimmt weniger Zeit in Anspruch. Der Nachteil: Für das Abspielen der Mp3-Formate wird ein spezielles „Daisy“-Abspielgerät benötigt. Normale CD-Player sind nutzlos, da sie sich nicht die Stelle im Buch merken können, an der gestoppt wird. Daisy-Geräte verfügen über eine Art digitales Lesezeichen. Sie kosten aber mindestens 300 Euro.

Jedes Jahr erweitern etwa 1.000 neue Buchtitel den Bestand in Münster. Etwa 400 davon produziert die WBH in ihren eigenen Studios, in der ersten Etage des Gebäudes. In einer der professionellen Sprecherkabinen brennt Licht. Vor dem Mikrofon sitzt Marion Bertling, vor ihr liegt auf einem Lesepult ein aufgeschlagenes Buch. Gerade blättert sie die nächste Seite auf. Zusammen mit 24 anderen ausgebildeten Sprechern ist sie für den wichtigsten Teil der Produktion verantwortlich: das Vorlesen. „Es ist eine schöne Arbeit“, schwärmt die Sprecherzieherin, denn hier könne sie das machen, was sie eh gerne tut, nämlich lesen. „Außerdem hab ich dabei das Gefühl etwas Sinnvolles zu tun.“ Die blinden Menschen seien sehr dankbar, ergänzt Geschäftsführer van Menxel, Marion Bertling nickt zustimmend. „Die Hörbücher bieten den Blinden die Möglichkeit in Kontakt mit der Außenwelt zu treten und mitreden zu können.“ Viele blinde Menschen seien sehr einsam, oft leben sie isoliert von der Außenwelt, erklärt van Menxel die Probleme.

Ohne die Hilfe der Blindenhörbücherei hätten viele nicht die Möglichkeit an Literatur oder Informationen heran zu kommen. „In Deutschland werden Blinde in diesem Punkt allein gelassen“, ärgert sich van Menxel. Einen Zugang zu Tageszeitung haben sie beispielsweise nicht. In den benachbarten Niederlanden ist das anders: Hier gibt es gleich vier Tageszeitungen, die täglich aufs Band gelesen werden. Auch Menschen, die nicht die Zeitungen lesen können, werden so täglich mit den neuesten Nachrichten versorgt.

Um das Defizit in Deutschland auszugleichen digitalisiert die WBH die Wochenzeitung die Zeit. Jeden Donnerstag wird sie um sieben Uhr gekauft, bis zwölf ist sie gelesen, bis 15 Uhr verpackt. Am nächsten Morgen finden die rund 500 Abonnenten die – fast – aktuelle Ausgabe dann in ihrem Briefkasten.

„Eigentlich haben alle Bürger laut Grundgesetz das Recht mit Information und Literatur versorgt zu werden“, erklärt van Menxel weiter. Für Blinde sei dieses Grundrecht aber nicht vorgesehen. Öffentliche kommunale Bibliotheken für Blinde gibt es nicht. Auch die WBH ist eine Einrichtung der Blindenselbsthilfe, Träger sind die Vereine und Verbände der Kriegs- und Zivilblinden in NRW, Reinland-Pfalz und dem Saarland. Finanziert wird der Betrieb der WBH durch Spenden und Mitgliedsbeiträge der tragenden Vereine – und durch die Blinden selbst. Denn der jährlich bewilligte Zuschuss des Landes NRW deckt gerade mal ein Drittel der Ausgaben. „Bis jetzt ist eine Fortsetzung des Zuschusses nie garantiert gewesen“, sagt van Menxel zur schwierigen finanziellen Situation. So müsse sich die WBH jedes Jahr um ihre Existenz sorgen. Dabei solle eigentlich der Staat dafür sorgen, dass auch blinde Menschen ausreichend Zugriff auf Literatur haben – und nicht die Betroffen selbst.

Die vielen Hörbücher, die es in jeder Buchhandlung zu kaufen gibt, sind für die Blinden keine Alternative: Die auch bei Sehenden beliebten CD sind teuer, meist werden nur abgekürzte Lesungen angeboten. Da Hörbücher im Hinblick auf einen möglichen finanziellen Erfolg produziert werden, ist die Titelauswahl nur sehr gering. Laut einer Studie des Arbeitskreise Hörbuchverlage hatten im vergangenen Jahr über die Hälfte der Hörbuchverlage weniger als 25 Titel im Gesamtprogramm.

Die WBH kann ihren Lesern zwar 20.000 Titel bieten, das ist aber immer noch wenig. Und das, obwohl sie die größte Blindenhörbücherei in Deutschland ist. Grund dafür ist die schwierige finanzielle Lage. Zum Vergleich: Die Universitäts- und Landesbibliothek Münster hat 2,3 Millionen Bände im Angebot.

Der neue Harry Potter wird, nachdem er vorgelesen ist, zehn bis zwanzig mal kopiert. So dauert es für den Großteil der 8.500 Leser mehrere Wochen, bis sie endlich das begehrte Werk im Briefkasten finden.