Mondo Fumatore im Privatclub, beim taz-Mixtape-Abend in Neukölln und das Elektronik-Pionierinnen-Festival „Heroines of Sound“ im HAU
: Ungewöhnlich mild

Ausgehen und Rumstehen

von

Jens Uthoff

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt. Den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat. Dichtete Peter Hein von den Fehlfarben 1980, und er meinte damit mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch das Wochenende vom 10./11. Dezember 2016 in Berlin. Es ist einheitsgrau und sehr mild, der Himmel scheint tief über der Stadt zu hängen, sie fast niederzudrücken, und die Vorweihnachtspanikeinkäufer an den Haltestellen vermitteln das Gefühl, es stünde irgendetwas Beunruhigendes bevor. Komische Atmo. Fast, als wäre schon Silvester, alle sind in Erwartung von etwas Besonderem, das dann aber doch wieder nicht eintritt.

Am Freitagabend radle ich die Skalitzer Straße entlang und suche nach dem großen, rotleuchtenden „P“. Ich finde es neben dem Postamt, das „P“ steht aber weder für „Postamt“ noch für „postfaktisch“, sondern für „Privatclub“. Hier stellen Mondo Fumatore – seit 20 Jahren eine Bank in Sachen Berliner Indierock – ihr neues Album vor. Mondo Fumatore heißt so viel wie „Welt der Raucher“ – im Privatclub ist die Mondo Fumatore aber nur ein kleiner abgetrennter Bereich. Als ich komme, bestreitet gerade der bekannte Wandergitarren-Comedian Fil das Vorprogramm, er covert „Lullaby“ von The Cure auf Deutsch und erinnert daran, wie traurig Menschen in den Achtzigern waren, als noch alles voller Grauschleier war. Insgesamt schwankt sein Auftritt zwischen kalauerig und brillant. Mondo Fumatore sind dann toll und spielen tanzbare, rockige Hits am Fließband mit Sixties-Einschlag. Der Doppelgesang von Gwendolin Tägert und Mondomarc funktioniert bestens. Ich treffe Kollegin S. und wir fragen uns, warum diese Band, die bislang nur Kreuzberg erobert hat, nicht schon längst weltberühmt ist. Falsche Zeit, falscher Ort, könnte eine Antwort sein. Sie starteten zu einer Zeit, als Berlin nicht gerade als Rockcity bekannt war.

Während der Zugabe entschwinde ich Richtung Neukölln, denn in der Kneipe „Das Gift“ lädt das taz.mixtape (die wöchentlichen Radiosendung bei byte.fm) ein, das Popjahr 2016 abschließend zu begießen. Oder zu betrauern? Auf dem Tisch in der Runde stehen ganz viele weiße Friedhofskerzen für einige gestorbene Musiker dieses Jahres. Klar sind Bow­ie, Prince und Leonhard Cohen dabei, aber auch Hagen Liebing, Maurice White und leider viele, viele mehr. Mit Bowie, Prince und Cohen drei auf einmal, die lebensrettende Songs geschrieben haben. Als würden Beckenbauer, Pelé und Maradona hintereinander wegsterben. Von den Kollegen erfahre ich, dass ein Unbekannter die Kerzen für die Runde der Musikschreibenden abgegeben habe. Mysteriös!

Etwa 15 Kollegen sind gekommen, die Kollegen Philipp Rhensius und Julian Weber legen im vorderen Raum auf, im hinteren fließt das Bier – leider führt das dazu, dass ich sehr ausgiebig Gebrauch von dem Angebot mache. D. und ich sind die Letzten, die gehen; sie fragt mich gar, ob ich mit dem Rad fahren oder es schieben will. Huch! Natürlich fahren. Um halb vier schlingere ich also über die Sonnenallee nach Hause. Eine weiße Kerze mit dem Symbol von The Artist Formerly Known As Prince im Gepäck.

Der Samstag beginnt entsprechend spät, es ist immer noch ungewöhnlich mild und ich streife am Abend Richtung HAU, wo das Festival „Heroines Of Sound“ für die Pionierinnen der elektronischen Musik zu Ende geht. Es gibt zunächst ein Panel, bei dem es um den (historischen) Sexismus in der Pariser Groupe de recherches musicales (GRM) – einem der traditionsreichsten Zusammenschlüsse für elektroakustische Musik – geht. Die GRM-Komponistinnen Beatriz Ferreyra, Christine Groult und Clara Maïda sind gekommen, allerdings ist das Gespräch mit ihnen etwas konfus. Erstens weil sie ständig zwischen Französisch, Englisch und Deutsch wechseln und zweitens weil doch nicht so ganz klar ist, ob man nun über Geschlechtergerechtigkeit oder über künstlerische Ästhetik sprechen will.

Anschließend spielt im HAU unter dem Titel „Stimme und Elektronik“ unter anderem die in Berlin lebende kolumbianische Künstlerin Lucrecia Dalt. Sie ist mit ihren dröhnenden Soundscapes, über die sie spricht und singt, Höhepunkt des Abends. Von den insgesamt sechs Künstlerinnen machen zwei – Ute Wassermann und Audrey Chen – reine Vokalkunst, ohne allerdings zu singen. Gurren, Pfeifen, Röcheln, Quaken, Krächzen, Kreischen, Schnarchen, Schnalzen – fast alles ist dabei. Für mich ist das nichts, aber interessant ist es schon, welche Geräusche man so erzeugen kann.

Am Sonntag dann wieder Grauschleier. Ganztägig. Überall.