per anhalter durch den freihafen von JOACHIM FRISCH
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Reisen bildet nicht allein wegen der Erfahrung fremder Ess-, Trink-, Abführ- und Ungezieferbekämpfungsrituale. Auch wer seine Heimat kennen lernen will, sollte sie von Zeit zu Zeit verlassen, um bei der Rückkehr die wahren Proportionen zu sehen, wenn alles vermeintlich Vertraute fade und alles Große auf Bonsaiformat geschrumpft ist, wenn das Wetter noch mieser ist und die Mitmenschen noch doofer sind, als die Erinnerung es zu speichern vermag.

So lernten drei Schüler aus Hamburg das wahre Gesicht der Hansestadt kennen, als sie per Anhalter aus Spanien zurückkehrten. Ein freundlicher Lkw-Fahrer hatte sie im Freihafen abgeladen, nächtens gegen drei vor einer „Tatort“-Showdown-Kulisse, unter kaltem Neonlicht zwischen Brückenpfeilern, Containern und Lagerschuppen. Dorthin bestellten mich die drei Reisenden, damit ich sie zurück in die familiäre Geborgenheit verfrachte.

Gerade lade ich Urlauber und Gepäck in meinen winzigen Fiat, da mischt sich ein noch kälteres, nervös blaues Blinken unter das Neonlicht, Schimanskis uniformierte Kollegen. Wir müssen wieder rauskriechen aus der Sardinenbüchse, Fahrzeug-, Führerschein- und Ausweiskontrolle, skeptische Blicke in und unter den Fiat, auf das Reisegepäck, auf die Schüler, dann ein 40-minütiger Vortrag über die Gefahren des Haltens im Halte- und des Wendens im Wendeverbot. Wegen Letzterem müssen wir etwa 28 Kilometer Umweg fahren, zweimal über die Köhlbrandbrücke, um dann durch den Zoll den Freihafen zu verlassen.

Da haben nun die Herren und die Dame Zöllner etwas gegen. Die Faszination des Ortes hat sie in ihren Bann gezogen, sie spielen „Tatort“-Showdown mit uns. Ein verkniffenes Käsegesicht bellt: „Aussteigen!“, eine automatische Schnellfeuerwaffe im Anschlag. „Da rüber!“, kläfft er, wir müssen auf die andere Straßenseite, Sicherheitsdistanz bei Terror-Alarmstufe eins, nehme ich an. Käsebub gibt den Kollegen Zeichen durch veitstanzartiges Kopfzucken, sie beginnen die minutiöse Durchsuchung von Auto und Gepäck, während er breitbeinig vor uns steht. Auf jedes kleinste Zucken kläfft er „Nicht bewegen!“ und hebt hypernervös den Lauf der Maschinenpistole. Ich meine, ein tonloses „Sonst puste ich euch das Hirn aus der Birne“ zu vernehmen, bin aber aus juristischen Gründen nicht ganz sicher.

An dieser Stelle muss ich anmerken, dass ich ausgesprochen seriös aussehe. Selbst die Punks, die an Kreuzungen Windschutzscheiben wischen, siezen mich: „Gestatten, der Herr …?“ Vielleicht liegt es daran, dass die Obergauner im „Tatort“ auch immer seriös aussehen. Allerdings fahren die keinen 0,9-Liter-Fiat Baujahr 87. Vielleicht war’s auch eine Art politisches Ungeziefer-Bekämpfungsritual wegen der Dreadlocks meiner Mitfahrer.

Während der 90-minütigen Durchsuchung von Fahrzeug und Urlauberrucksäcken passierten etwa 57 Vierzigtonner unbehelligt die Zollschranke, insgesamt beladen mit schätzungsweise einer Tonne Kokain, 700 ukrainischen Huren und einer Milliarde unverzollter Zigaretten aus Polen. Immerhin haben dadurch viele Menschen von unserer schlaflosen Nacht profitiert. Danket uns, Dealer, Kokser, Zuhälter, Puffgänger und Raucher.