Gedanken wie Grippeviren

Den rumänischen Pavillon der Kunstbiennale Venedig hat Daniel Knorr als leeren Raum gestaltet, dazu gereicht wird ein Europa-Reader

VON GLORIA ZEIN

Der rumänische Pavillon der diesjährigen Biennale von Venedig blieb nur vermeintlich leer: Der 1968 in Rumänien geborene und in Berlin lebende Künstler Daniel Knorr säuberte und renovierte die Fassade, befreite das Innere von Stellwänden und abgehängten Decken, um den nackten Innenraum in seiner kruden Schönheit wirken zu lassen. Übrig blieben die Spuren vorangegangener Ausstellungen wie Schrauben, Dübel, handschriftliche Vermerke oder ein bemoostes Oberlicht.

„Daniel Knorr versteht diesen Raum als perfekten support für seine eigentliche Kunst: das Museumsschild im Eingangsbereich als Kernhinweis auf die Arbeit European Influenza“, sagt Marius Babias, Kurator des rumänischen Pavillons. Beabsichtigt ist eine Reflexion über die Identität Europas, deren Bestandteile sowohl historische Erinnerungen wie aktuelle Diskussionen sind. Ähnlich wie Grippeviren sollen sich Gespräche und Gedanken multiplizieren und kommunizieren. Die offene Tür an der Rückwand des Pavillons ist das Bild für diese Wechselwirkung von Kunst und sozialer Realität.

Dem immateriellen Ansatz Knorrs folgend gab Babias zudem einen Reader heraus, der integraler Bestandteil des Gesamtprojektes ist. In alphabetischer Reihenfolge reflektieren 29 Autoren die vielfältigen Aspekte der Europäischen Identitätsbildung. Damit möchte Babias sein Geburtsland Rumänien, das 2007 als östlichstes Land (und damit zukünftige Außengrenze) der EU beitreten wird, in einen Diskurs einbinden, der – etwas umständlich formuliert – „Europa als Chance auf ein Kritikformat“ begreift, „um die ideologischen Grundlagen, ökonomischen Voraussetzungen und kulturellen Begleiterscheinungen des europäischen Vereinigungsprozesses erfassen und analysieren zu können“.

Das auf den ersten Blick ob seines Umfangs von 912 Seiten etwas einschüchternde weiße Buch im Format eines Reklamhefts entpuppt sich schnell als spannender Diskussionskatalysator. Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz denkt über Herkunft und Bedeutung des Wortes „Heimat“ nach, das sie in religiöser Tradition und Kindheitserinnerungen verankert. Hinter der nostalgischen Schönheit solcher Selbstverortung verberge sich jedoch die Definition des Fremden, die Teilung der Welt in Freunde und Feinde. Wer dazugehören möchte, muss Aussehen, Sprache und Erinnerung mit der Heimat teilen, ja: kritiklos annehmen. Der Begriff werde Mittel zur Ausgrenzung alles Fremden. Explizit zielt die Autorin auf nationalistische Polemiken der FPÖ. Mechanismen kultureller Ausgrenzung thematisiert auch der Philosoph Boris Buden. Indem der Westen den postkommunistischen, von Nationalismus getragenen Konflikt auf dem Balkan als kulturelles statt politisches Problem behandelte, konnte „eine ideologische Grenze zwischen dem kulturell entwickelten, ahistorischen und post-politischen Westen und einem kulturell rückständigen, noch immer unter politischen Antagonismen leidenden Osten gezogen werden“. Das große, auch von Milan Kundera propagierte Projekt eines „besseren“ Zentraleuropa, geformt von einer „kulturellen Aristokratie“, sei politisch gescheitert.

Eigens in Auftrag gab Marius Babias eine Recherche bei Roger Griffin über die Entwicklung faschistischer Netzwerke von 1922 bis 1992. „Griffin beschreibt das europaweite Netzwerk der Nazis und die Stilisierung der SS als erste supranationale Vereinigung und als Motor einer europäischen Großraumordnung.“ Heute werde durch nationalsozialistische Mythen eine kulturelle Deutungshoheit von rechts auszuüben versucht, die die Nazi-Ideologie wieder salonfähig gemacht hat.

Als Statement für die rumänischsprachigen Leser (alle anderen Beiträge wurden auf Englisch publiziert) nahm Babias einen für die Bühne verfassten Monolog der aus Moldawien stammenden Rumänin Nicoleta Esinencu in den Reader auf. Ihre Anklage gegen den Vater, das autoritäre System und das patriarchale Denken sei die Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität – vor dem Hintergrund politischer Ausgrenzung: Ab 2007 wird Moldawien Grenzland zur EU sein. „Fuck You, Eu.ro.Pa!“ heißt Esinencus in Rumänien bereits skandalisiertes Stück.

Auch der Kurator und der Künstler des Pavillons sind im Reader vertreten: Marius Babias denkt in einem Text über „Das Neue Europa: Die Kultur des Vermischens und die Politik der Repräsentation“ nach. Knorr zeigt mit drei Fotoserien historische und persönliche Momentaufnahmen. Mit einer selbst gebauten 180-Grad-Kamera hatte er 1998 das erste Open-Air-Festival Rumäniens fotografiert. Die eigentlich meterlange Panoramaaufnahme wurde im Seitenspiegelformat geschnitten und setzt sich nun über 97 Buchseiten fort. Mit derselben Technik hielt er 1996 eine Roma-Hochzeit und 1995 eine Straßenecke in Harlem fest. Durch Bewegungsunschärfen und zufällige Bildausschnitte liefert Knorr ein atmosphärisches Zeugnis der gewählten Situationen. Eine weitere Fotoserie zeigt mit einer Nassplattenkamera aufgenommene, historisch anmutende Fotografien des heutigen Bukarest. Sie waren im Juli in der ebenfalls von Babias kuratierten Ausstellung „Handlungsformate“ im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen.

Die dicken kleinen weißen Bücher (ohne Titel und ohne Cover) lagen im Eingangsbereich des rumänischen Pavillons auf zwei Paletten zur kostenfreien Mitnahme aus. 5.000 seiner „Ostbibeln“ hatte Babias drucken lassen; in Venedig sind sie längst vergriffen. Etwa 500 verbleibende Exemplare – mit Verdacht auf Kultwert – sind nun noch über die Bundeszentrale für politische Bildung, die das Buch mitfinanziert hat, zu beziehen.

bis 6. November