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Der Musterschüler sucht Reformen

Finnland Der einstige Pisa-Spitzenreiter verpflichtet seine Schulen zu fächerübergreifendem Unterricht – und wundert sich über die Falschmeldungen der internationalen Presse über das Ende der Schulfächer

Soll an finnischen Schulen mehr stattfinden: fächerübergreifende Gruppenarbeit Foto: Li Jizhi XinHua/Fotofinder

Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Finnland schafft die Schulfächer ab.“ Diese und ähnliche Überschriften konnte man in den letzten Wochen lesen. Der bisherige Kanon von Schulfächern solle durch „Phänomen-Unterricht“ ersetzt werden. Die finnischen SchülerInnen würden in Zukunft alle Themen interdisziplinär bearbeiten. Vom „radikalsten Erziehungsreformprogramm, das jemals von einem Nationalstaat durchgeführt wurde“, schwärmte der britische Independent. Ist das Land, das vor 16 Jahren in der ersten Pisa-Studie den Spitzenplatz eingenommen hatte und dessen Schulwesen deshalb international lange als Vorbild galt, wieder einmal dabei einen revolutionären Schritt zu tun?

Der kleine Haken an dieser Geschichte: Sie stimmt nicht. Bei der finnischen Bildungsbehörde (Opetushallitus) vermag man sich auch nur schwer zu erklären, wie es wieder zu solch falschen Meldungen kommen konnte. Sie waren so ähnlich schon vor einem Jahr in der internationalen Presse aufgetaucht und bereits damals umgehend korrigiert worden. Die Behörde hat das damalige Dementi nahezu wortgleich wiederholt: „Der Fachunterricht in finnischen Schulen wird nicht abgeschafft.“

Offenbar seien Formulierungen in den im August in Kraft getretenen neuen Lehrplänen nicht korrekt verstanden worden. Dort ist von interdisziplinärer Arbeit und einem Unterricht über die Grenzen der Schulfächer hinweg die Rede.

Und tatsächlich werde man diesen Fokus stärker betonen müssen, um „den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden“, sagt Eija Kauppinen, die bei der Bildungsbehörde für das Schulsystem zuständig ist. Man wolle an allen Schulen Phasen gemeinsamen Unterrichts mit mehreren LehrerInnen einführen, bei denen solche Zusammenhänge, „Phänomene“ eben, interdisziplinär behandelt werden sollen.

Der Ansatz des „Phenomenon-based learning“ (PBL) sei keineswegs neu, betont Kauppinen: Diese Unterrichtsform sei mit Projekttagen oder -wochen schon in der Vergangenheit an vielen Schulen praktiziert worden. Und das nicht nur in Finnland. Was sich ändere und bis 2020 landesweit realisiert werde: Für alle SchülerInnen der Grundschule – in Finnland die ersten neun Schuljahre nach der einjährigen Vorschule und vor der Sekundarstufe II – werde der „Phänomen-Unterricht“ nun Teil des Pflicht-Curriculums. Zumindest einmal pro Schuljahr muss ein zwei oder mehr Schulfächer verbindendes multidisziplinäres Projekt durchgeführt werden.

Den einzelnen Schulen und LehrerInnen, die in Finnland traditionell eine große Freiheit bei der Gestaltung der Lehrpläne haben, bleibe dabei überlassen, über Inhalt, konkrete Organisation und Dauer selbst zu entscheiden. Wobei die SchülerInnen in die Planung der Projekte aber eingebunden werden sollen und in deren Auswertung ihr Urteil darüber, was sie gelernt haben, eine wichtige Rolle spielen soll. Wie das in der Praxis funktioniert, sieht man beispielsweise an der kommunalen Schulbehörde der westfinnischen Hafenstadt Vaasa. Sie plant, das neue nationale Curriculum mit einer Lehrplan- und Unterrichtsreform zu kombinieren. Der Unterricht soll mehr und mehr außerhalb der Klassenräume stattfinden, in der Natur, mit Besuchen in Museen und anderen kulturellen Einrichtungen, bei Unternehmen und lokalen Schlüsselindustrien. Der Phänomen-Unterricht soll etwa um die Ostsee oder andere lokale Themen kreisen. Und er wird einmal im Jahr stattfinden.

In Helsinki sollen dagegen alle Hauptstadtschulen pro Schuljahr zwei solcher multidisziplinären Projekteinheiten veranstalten, und diese sollen jeweils alle Schulfächer von Geschichte und Sprache bis zu Mathematik und Sport umfassen. Themen bereits entworfener „Module“ für solche Projekte reichen von Finnlands 100-Jahr-Jubiläum bis zu „Ich und die Welt“ oder „Nachhaltige Lebensweise“.

Im Ergebnis werde der neue Reformschritt wohl dazu führen, dass es in den 313 finnischen Kommunen 313 unterschiedliche lokale Unterrichtsvarianten geben werde, kommentierte ein Schulamtsleiter: Und vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit schon vielerorts zum Bestandteil der Unterrichtskultur gehörenden „Themenwochen“ werde es „zu 90 Prozent nicht viel anderes aussehen als jetzt schon“.

Aktuelle Pisa-Studie: Topplatzierung mit Schattenseiten

Pisa 2015: Zwar haben sich die Leistungen der finnischen SchülerInnen in den Naturwissenschaften, der Lesekompetenz und Mathematik seit 2006 verschlechtert, doch man liegt noch immer über dem OECD-Durchschnitt. Insgesamt kommt das Land auf Rang fünf, unter den OECD-Ländern auf dem dritten Platz. Die Untersuchung bestätigt allerdings auch nationale Studien, wonach die Schulen dem Anspruch auf Chancengleichheit immer weniger gerecht werden. Regionale Unterschiede sind größer geworden, die Hauptstadtregion zeichnet sich durch merklich bessere Resultate aus. Und die Leistungen der Jungen fallen im Vergleich zu denen der Mädchen immer weiter zurück. In keinem OECD-Land ist der geschlechtsspezifische Niveauunterschied – zum Vorteil der Mädchen – so groß. Nur in Singapur schnitten Mädchen noch besser ab. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund liegen deutlich unter dem OECD-Schnitt. (rwo)

Was allerdings nicht im Sinne der MacherInnen des neuen Curriculums wäre. Mit dem integrierten Unterrichtsansatz erhofft man sich in der Bildungsbehörde nicht nur eine Verbesserung der Zusammenarbeit der LehrerInnen, sondern auch, dass die SchülerInnen stärker motiviert und aktiviert werden. Und dass die Kinder dabei Kenntnisse und Fähigkeiten lernen, die sie nach ihrer Schulzeit benötigen.

Unter den PädagogInnen sind die Erwartungen unterschiedlich. Die einen befürchten als Ergebnis der Reform einen weiteren Rückgang des Leistungsniveaus, wie er beispielsweise von Tests wie Pisa gemessen wird. Solche faktenorientierten Standardtests würden einer komplexen Umwelt sowieso nicht gerecht, argumentiert die Gegenmeinung. Sie befürwortet, dass die Reform die Grenzen zwischen den Schulfächern einreißt. Für einen grundlegenden Wandel in den Schulen sei das notwendig.

Der ist überfällig, meint Jouni Välijärvi, Direktor des Ausbildungsforschungsinstituts der Universität Jyväskylä. Seit der Grundschulreform von 1970 habe sich nicht mehr viel getan: „Und nach einem halben Jahrhundert ist eben manches obsolet.“ Die Schule löse das Versprechen von Chancengleichheit nicht mehr ein, in keinem vergleichbaren Land gingen die SchülerInnen so ungern zum Unterricht wie in Finnland, die Lernleistungen sänken ständig, was auch an der seit 2006 fallenden Kurve in den Pisa-Studien abzulesen sei.

„In einem internationalen Vergleich stehen wir zwar immer noch gut da“, betont Välijärvi: „Aber darauf sollten wir uns nichts einbilden.“ Er plädiert für radikalere Schritte, beispielsweise mit der Auflösung der Jahrgangsklassen und stärkerer Differenzierung der Ausbildung je nach Interesse und angestrebten Zukunftszielen der SchülerInnen: „Alle brauchen nicht exakt das Gleiche zu lernen.“ Dass die Regierung ausgerechnet jetzt die Ressourcen für das Bildungswesen kräftig zusammenstreiche, sei aber direkt kontraproduktiv und drohe die Lage weiter zu verschlechtern.

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