Keine Angst vorm Lebensabend

ALTERN Zum dritten Mal setzt sich auf Kampnagel der Themenschwerpunkt „Alte Schule“ mit kulturellen Perspektiven aufs Altwerden auseinander – und zeigt, dass Lebensfreude keine Frage des Alters ist

Das Leben feiert man am besten gemeinsam: In „Dancing Grandmothers“ lernen die Jungen von den Alten Foto: Young-Mo Cheo

von Robert Matthies

Angst vor dem Altwerden, die braucht am Ende dieses Abends niemand mehr zu haben. Wie im Rausch tanzen Eun-me Ahns „Dancing Grandmothers“ gemeinsam mit den jungen Tänzer*innen ihrer Compagnie unter Discokugeln und im Stroboblitz-Gewitter über die Bühne. An Energie mangelt es diesen Großmüttern (und einem Großvater) auch nach anderthalb Stunden offensichtlich nicht.

Ganz im Gegenteil: Wie eine große Befreiung, wie ein Aufbruch und Ausbruch wirkt das Tanzstück der südkoreanischen Choreografin: eine bewegende, begeisternde und ansteckende Ode an die Lebensfreude ist die ausgelassene generationenübergreifende Tanzparty. Und tatsächlich bittet die bunte Truppe am Ende auch das Publikum mit auf die Bühne: Das Leben feiert man am besten gemeinsam.

Vor sechs Jahren begann die 52-jährige „Pina Bausch von Seoul“, begleitet von vier ihrer Tänzer*innen und drei Kameras, auf einer Radtour quer durch die südkoreanischen Provinzen, Frauen zwischen 60 und 90 Jahren zum Tanzen zu animieren und filmte sie: um herauszufinden, wie die Seniorinnen tanzen, was das Tanzen mit ihnen macht, welche lokalen Gesten und Bewegungseigenarten es gibt. Rund 250 Frauen nahm die reisende Tanzforschungsgruppe auf. Und wurde schließlich selbst von der überraschenden Lebensfreude der Alten angesteckt.

Und auch die tanzenden Alten waren überrascht: dass sie, die ihr Leben lang als Ehefrauen und Mütter nur für andere da waren, sich um Haushalt und Kindererziehung kümmerten – „jemand von jemandem“ waren, wie eine der Frauen sagt – nun im Mittelpunkt standen.

Entstanden ist aus diesen Erfahrungen schließlich nicht nur der geplante Dokumentarfilm, sondern auch das ungewöhnliche Tanzstück, das nicht nur die unterschiedlichen Körpersprachen und Bewegungsrepertoires junger und alter Menschen kontrastiert und in Verbindung setzt. Sondern auch wie eine getanzte Landkarte einer Gesellschaft voller Spannungen und zugleich wie eine Zeitreise durch fast 100 Jahre koreanische Geschichte funktioniert: eine Geschichtsstunde ganz ohne Worte.

Zu sehen sind die „Dancing Grandmothers“ ab Mittwoch auf Kampnagel im Rahmen von „Alte Schule“. Zum dritten Mal will der Themenschwerpunkt junge und alte Akteure und Zuschauer zusammenbringen und mit künstlerischen, theoretischen und ganz persönlichen Perspektiven – die ganz und gar nicht zur „alten Schule“ gehören – stereotype Bilder vom Altsein und Altern hinterfragen und Generationengrenzen durchbrechen: „Generationism“ heißt auf Kampnagel seit ein paar Jahren die große Klammer, die „Alte Schule“ ebenso umfasst wie die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Rolle von Kindern im Theater, sowohl auf als auch hinter der Bühne.

Das Alter ist denn auch nicht bloß Thema auf der Bühne, nicht nur Gegenstand einer Darstellung. Vielmehr geht es um unterschiedliche kulturelle Perspektiven auf den Lebensabschnitt, um die spezifische Perspektive, die das Alter auf das Leben ermöglicht. Und um das gemeinsame Lernen voneinander und das gemeinsame Arbeiten miteinander über Altersgrenzen hinweg.

Die ausgelassene Tanzparty ist eine bewegende und ansteckende Ode an die Lebensfreude

Deutlich wird das auch in der zweiten großen Produktion, die im Rahmen des Schwerpunktes zu sehen ist. „All the sex I’ve ever had“ heißt die Performance der kanadischen Gruppe Mammalian Diving Reflex, in der sechs sexuell erfahrende Seniorinnen und Senioren von ihrer eigenen sexuellen Entwicklung erzählen: Welche Highlights und Tiefpunkte haben sie erlebt? Wie haben sie das erste Mal empfunden, die erste Liebe, die erste Schwangerschaft? Ganz chronologisch geht der Abend dabei vor: Jahr für Jahr wird die sexuelle Biografie erzählt.

Auf eine etwas andere Weise setzt sich hingegen die Hörinstallation „Forced Theatre“ der Hamburger Regisseurin Ute Rauwald mit der „Alten Schule“ auseinander. Grundlage der Installation sind Interviews mit jungen und alten, ehemaligen und immer noch arbeitenden Mitarbeitern unterschiedlicher Theater, sowohl auf als auch hinter der Bühne.

Sie geben Einblicke in ganz persönliche Gewalterfahrungen in der vermeintlich so offenen, aber eben immer noch von der älteren Generation geprägten Theaterwelt: Die entpuppt sich dabei als System, das – darin noch ganz „old school“ – von Gewalt, Sexismus und Patriarchat durchzogen ist.

Mit dem Thema Alter setzen sich schließlich auch zwei Kurzfilmabende rund um den Komplex Alter und Arbeitswelt sowie ein Gespräch mit Gabriele Paulsen, die sexuelle Dienstleistungen für alte Menschen anbietet, der Sexualassistentin Nina de Vries und Doris Kreinhöfer von der Körber-Stiftung auseinander.

Schwerpunkt „Alte Schule #3“: Mi, 7. 12., bis So, 11. 12., Kampnagel