Der Propst und das Geld der alten Dame: Luthers Albtraum
Wie der Braunschweiger Propst Armin Kraft von der Freundschaft zu einer älteren Dame profitierte.
„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Der marktschreierische Ablasshandel eines Johann Tetzel, diese lukrative Sündenvergebung gegen Gold, war Teil der großen Empörung, die den 18 Jahre jüngeren Martin Luther veranlasste, seine „Propositiones wider das Ablaß“ an die Schlosskirche zu Wittenberg zu nageln. Der moralinsaure Augustiner wurde theologischer Urheber der Reformation, die sich 2017 zum 500sten Male jährt. Der Dominikaner Tetzel hingegen gilt heute als Blaupause einer pervertierten christlichen Botschaft.
Seine Vollkaskoversicherung mit Himmelfahrtsschein verkaufte er auch in Braunschweig an verängstigte Christenmenschen. So steht noch heute im Altstadtrathaus seine sperrige Ablasskiste und im nahen Mittelgebirgszug Elm lockt der Tetzelstein Wanderer dorthin, wo ein Ritter von Hagen vom Hagenhof dem beladenen Goldesel der Kirche die Last ein wenig leichter machte, nicht ohne zuvor noch einen Ablassbrief „für noch zu begehende Sünden“ zu kaufen. Schulkinder lachen bis heute in der Grundschule über diese Eulenspiegelei – obligatorisch sind Ausflüge vorbei an Kiste und Stein.
Was nun allerdings über 500 Jahre später einen braven Lutheraner ausgerechnet mit dem verhassten Tetzel in Verbindung bringen könnte, ermittelte gerade der NDR. Man ging dort dem Verdacht nach, ein angesehener Braunschweiger Kirchenmann, der Domprediger und Propst i. R. Armin Kraft, hätte „jahrelang Zuwendungen von einer inzwischen verstorbenen Frau erhalten“. Um die hunderttausend Euro seien über die Jahrzehnte in die Kiste des heute 75-jährigen Kirchenmannes geflossen.
Der Propst als bunter Hund
Armin Kraft ist so was wie ein bunter Hund in Braunschweig. Jahrzehntelang erschienen zwei Mal wöchentlich seine „Kraftworte“ in der städtischen Gratiszeitung. Auf Spaziergängen rund um die in der Nähe seines Hauses gelegenen Klosterteiche trifft man ihn auch alltags mit bunter Fliege. Die ist sein Markenzeichen geworden, noch mehr als der übliche Kollar, das weiße Bündchen am Stehkragen als Erkennungszeichen des Christenhirten. Krafts voluminöser runder Kopf darüber verleiht ihm die bacchantische Fröhlichkeit des weinseligen Klosterbruders – und so gebärdet er sich bei aller oberflächlichen Akkuratesse auch schon mal so hemdsärmlig wie Bruder Tuck.
Zunächst recherchierte also der NDR, dann legte die Braunschweiger Zeitung, sonst eher herzlich bemüht um den Burgfrieden mit den verdienten Helden der Stadt, schonungslos nach und fragte, wo denn das Gold im Wert von achthunderttausend Mark – heute geschätzte 1,8 bis zwei Millionen Euro – geblieben sei, das die alte Dame in ihrem Tresor gebunkert haben sollte. Denn als die Testamentsvollstreckerin Ellen Hora, eine Großnichte der Verstorbenen, in den Tresor schaute: nur gähnende Leere.
Die Großnichte, die den Stein bei den Medien ins Rollen brachte, hätte eigentlich gar nicht schauen sollen: Ein Testament, noch wenige Wochen vor dem Tod der Charlotte W. von Armin Kraft selbst aufgesetzt mit ihm als alleinigen Nutznießer, hätte das verhindert. Nur wurde das Testament vom Amtsgericht nicht anerkannt. Der Geistliche, so stellte sich heraus, hatte 14 Jahre lang eine Bankvollmacht der alten Dame: Die Großnichte legte der örtlichen Zeitung schockiert ein Konvolut an Notizen vor, das – neben weiteren Merkwürdigkeiten in der Beziehung zwischen Geistlichem und gläubiger Christin – auch besagte Vollmacht zu Tage förderte.
Die Barren sind weg
Aber dann, 2011, entzog die damals schon weit über 80-jährige alte Dame plötzlich Armin Kraft die Bankvollmacht. Sie notierte in ihren Kalenderbüchern: „Die Barren sind schon weggegeben. A,A,A!“ und weiter: „A. ruft an, damals waren d. B. nicht so viel wert!“ Am Folgetag steht Charlotte W. schon in aller Herrgottsfrühe auf: „4.30 Uhr aufgestanden. 7.50 Uhr Anruf bei der Bank (…) 9.25 Uhr Bankberaterin ruft an und will die Vollmacht sofort löschen und einen Brief schicken, den ich unterschreiben soll.“
Nun kann „A,A,A!“ alles Mögliche sein, sogar die Klassifikation eines stromsparenden Kühlschranks. A. Kraft jedenfalls spricht gegenüber der Braunschweiger Zeitung von Verleumdungen, bevor er sein Amt als städtischer Spendensammler für Kinder in Armut zähneknirschend niederlegt. Damit sei allerdings „in keiner Weise ein Schuldeingeständnis im Blick auf die gegen mich erhobenen Vorwürfe verbunden“.
Nun darf sich auch ein Mann des Glaubens auf den Zweifelssatz berufen. Selbst dann, wenn dieses „In dubio pro reo“ kein Glaubenssatz der christlichen Kirche ist, sondern griechische Rechtsauffassung, hineingelegt in die geistige Wiege Europas von den Schülern Platons.
Tetzel soll einen bedrohlichen Teufel auf seine Ablasskiste gemalt haben – ein Hinweis auf das drohende Fegefeuer. Aber ob so eine brave alte Dame fünfhundert Jahre später eine mittelalterliche Furcht derart gepackt hat, dass sie mit dem süßen Honig des Scheckbuchs den Tetzel im Pastor auf den Plan rief? Man möchte doch gern davon ausgehen, dass hier familiäre Verknüpfungen entstanden wären über die Jahrzehnte, dass man sich näher kam, dass man die gläubige Alleinstehende aus der Kraftschen Bibelstunde, die noch dazu eine eloquente Gesprächspartnerin gewesen sein soll, zunächst aus christlicher Nächstenliebe, dann von Herzen lieb gewonnen und letztlich mit offenen Armen in die Familie aufgenommen hatte.
Patin seiner Enkelkinder
Ellen Hora sagt, ihre Großtante Lotte hätte Ihr erzählt, „dass sie im Jahr 1999 die Patenschaft des ältesten Sohnes von Herrn Krafts Tochter und später im Jahr 2008 eines weiteren Sohnes übernommen hat. Die Patenschaft einer weiteren Tochter hat sie im Oktober 2013 hingegen abgelehnt.“
Die Pastorenfamilie hat mehr als nur eine Patentante aus fremdem Hause für ihren Nachwuchs zu bieten. So ist keine geringere als Viktoria Louise, Braunschweigs Sissy und letzte Tochter des deutschen Kaisers, Patentante eines der Kinder Armin Krafts. Denn der war einst Pastor an der Klosterkirche Riddagshausen zu Braunschweig – einer Gemeinde, der auch die Prinzessin als Anwohnerin dieser besten Braunschweiger Wohnlage zugetan war.
Was für eine Aschenputtel-Geschichte! Viktoria Louise ist immerhin auch Patentante für Prinz Georg Friedrich von Preußen, den Chef des Hauses Hohenzollern.
Interview im NDR
Was Armin Kraft über die kaiserliche Patentante zu sagen hat, dazu gleich. Taufpatin Tante Lotte jedenfalls kommt überhaupt nicht gut weg, wie folgender Dialog mit dem NDR zeigt: Angesprochen auf die fette Beute von einhunderttausend Euro erklärt Kraft, in seinem Garten stehend: „Und das war dann eben auch so „eine Anerkennung dessen, weil sie jeden Tag ja auch hier war.“ Der NDR fasst nach: „Wie eine Art Entschädigung fast, oder?“ Kraft antwortet: „Ja.“ NDR: „Eine finanzielle Entschädigung dafür, dass sie hier ist?“ Kraft: „Sie hat sich dann … das muss ich so sagen … in bestimmten Bereichen, auch wenn’s dann manchmal kriselte, eingekauft. Die ist mir eben auch manchmal auf den Geist gegangen.“
Ellen Hora sah die Sendung auch: „Von den erniedrigenden Aussagen Herrn Krafts im NDR war ich total schockiert, fassungslos und maßlos wütend. Ich habe unfeine Worte in Richtung des Fernsehers geschrieen.“
Leider weiß man seit 2011 auch, was Armin Kraft über die 1980 verstorbene Kaisertochter denkt. Damals kam er gegenüber der örtlichen Zeitung in Plauderlaune. Viktoria Louise hätte kaum einen Tag vergehen lassen, ohne bei Armin Kraft und seiner Familie vorbeizuschauen. Und das fast immer unangemeldet. „Ich weiß nicht, ob sie einen Narren an mir gefressen hatte oder ob es einfach nur Einsamkeit war“, fügte Kraft damals an. Die Herzogin habe viel gequalmt. Filterlos (Reval). Und zwischendurch hätte sie sich die Tabakkrümel von den Lippen gepult.
Despektierlichkeit post mortem
Aber bei diesen Indiskretionen bleibt es ja nicht. Bei Kaisers Tochter dieselbe post mortem nachgeschmissene Despektierlichkeit wie fünf Jahre später bei Charlotte W. Viktoria Louise hätte stets im Mittelpunkt gestanden, „und es war ihr sehr wichtig, dass die Leute an ihr interessiert waren“, erinnert Kraft und muss da doch mindestens eine Verwandtschaft gespürt haben. Die Adlige habe auch durchaus jähzornig sein können. Und sie sei nicht warmherzig gewesen. „Sie hat bestimmte Sachen nicht gelernt, und Warmherzigkeit gehörte dazu.“ Sie habe sogar ein von Kraft organisiertes Fußballturnier besucht, „weil sie einsam war und beguckt werden wollte“. Der Artikel endet so: „Armin Kraft kannte Viktoria Louise elf Jahre. Kurz vor ihrem Tod besuchte er sie noch im Krankenhaus in Hannover. (…) ‚Ihre Familie rief mich an und bat darum, dass ich den Trauergottesdienst halten möge‘, erklärt Kraft.“
Zwölf Tage noch dem Tod der Charlotte W. stellten die Horas Strafanzeige gegen Armin Kraft wegen folgender Delikte: Vorteilsnahme im Amt StGB §331, Unterschlagung StGB §246 und Diebstahl §242 sowie wegen des Versuches der Erschleichung einer Finanzvollmacht und Erbschleicherei. Die Anzeige wurde nach Prüfung in allen Fällen zurückgewiesen „mangels Beweisen“, „reiner Spekulation“ und auch deshalb, weil Charlotte W. ja zu Lebzeiten keine Strafanzeige gegen Pastor Kraft gestellt hätte.
Ein Schreiben an die EKD Hannover erfolgte über den Anwalt der Ellen Hora bereits am 23. 1. 2015. Dann lag der Fall schon über eineinhalb Jahre beim Kirchengericht zur Prüfung eines Disziplinarverfahrens gegen Kraft. Aber selbst bei dem üppigen Zeitfenster: von einer umfangreichen Aufklärung konnte keine Rede sein.
Der Braunschweiger Journalist Henning Noske, der stundenlang den schriftlichen Nachlass der Charlotte W. sichtete, kommentierte bissig, die Landeskirche hätte es verpasst, „in einem verstörenden Vorgang das Gesetz des Handelns in die Hand zu nehmen“. Die Kirchenregierung hätte die Möglichkeit kläglich vertan, eine Instanz darzustellen, der man „vertraut und schwierige Fragen anvertraut“.
Warmer Regen
Armin Kraft erklärte im Interview mit der Braunschweiger Zeitung, die Zuwendungen seien angesichts eines kirchlichen Gehaltes von A13 ein „warmer Regen“ gewesen. Nun gut, für viele ist schon ein Gehalt in Höhe von A13 ein warmer Regen.
Bleibt noch die Frage nach dem verloren gegangenen Goldschatz der Charlotte W. Wird es ein ewiges Rätsel bleiben, die Braunschweig-light-Version der Bernsteinzimmer-Story? Werden hier in den nächsten Jahrzehnten diverse Gärten umgegraben werden auf der Suche nach den verschollenen Barren?
Vieles an diesen Erbstreitereien rund um Ellen Hora, Pastor Kraft und Charlotte W. bleibt rätselhaft. So erzählt Frau Hora, dass bereits eine Stunde, nachdem der Arzt den Tod ihrer Großtante bestätigt hatte, der Leiter des Wohnstifts angerufen und ihr mitgeteilt habe, Pastor Kraft habe im Wohnstift angerufen und verlangt, die Wohnung ihrer Großtante zu betreten. Dieses sei ihm verwehrt worden, da Charlotte W. ihm zu Lebzeiten keine Betretungsbefugnis erteilt hatte. Pastor Kraft habe versprochen, umgehend eine Vollmacht vorzulegen, was aber nicht geschehen sei.
Im Krankenhaus habe „Herr Kraft (…) inzwischen die Herausgabe des Koffers einschließlich Inhalt und sämtlicher Wertgegenstände der Verstorbenen gefordert“. Auch im Beerdigungsinstitut teilte die zuständige Angestellte Ellen Hora mit, dass Herr Kraft angerufen hätte und ihr mitgeteilt habe, dass er bevollmächtigt sei, alle Details zu regeln. Bevollmächtigt war allerdings nach eigenem Bekunden Ellen Hora, die bei der Durchsicht der Unterlagen vom Beerdigungsinstitut das Testament vom 5. 10. 2014 entdeckte, in dem Herr Kraft als Alleinerbe aufgeführt war und das später vom Amtsgericht für unwirksam erklärt wurde, weil es eigenhändig von Herrn Kraft und nicht von der Erblasserin selbst geschrieben worden sei. „In jenen Tagen ging es ihr aufgrund einer schweren Lungenentzündung sehr schlecht“, ergänzt Ellen Hora, und man soll es als Fingerzeig verstehen.
Engel von Braunschweig
Wie viel Bernsteinzimmer in der Geschichte noch steckt, beweist nun auch das neuere Interesse an der Identität des sogenannten „Engels von Braunschweig“, eines anonymen Gönners, der Briefe mit jeweils bis zu zehntausend Euro an Kirchen und Organisationen in der Stadt verteilt hatte. Bezüglich des Geldes kann sich Ellen Hora „aufgrund der zeitlichen Abläufe, der beteiligten Personen und der potentiell verschwundenen Goldbarren gut vorstellen, dass das Geld eventuell aus ihrem (Charlotte W.) Vermögen stammt“, aber sicher nicht direkt von einer alten Dame an zwei Gehstöcken bei Nacht und Nebel in die Briefkästen im Stadtgebiet verteilt worden war.
Auch der Journalist Henning Noske taucht hier im Zusammenhang mit dem anonymen Spender wieder auf, als er gegenüber dem Spiegel erklärte: „Von so einer Story träumt doch jeder!“ Pastor Armin Kraft war damals übrigens einer der Hauptnutznießer, er meldete der Presse gleich drei der anonymen Geldsendungen – seine „Kinder in Armut“ freuten sich über ihren Anteil an mehr als zehntausend Euro.
Dieser Kraft gilt dem Braunschweiger Bürgermeister als begnadeter Spendensammler. Über eine Millionen Euro soll er mit großer Überzeugungskraft für die gute Sache zusammengetragen haben. Und das sogar, ohne dabei gleich den Tetzelschen Teufel auf seine Sammelbox zu malen. Man gab’s ihm auch gern so.
Und da brennt sich dann ein Zitat von Armin Kraft gegenüber einem regionalen Internetportal besonders tief ein: „Wenn ich am Telefon oder schriftlich um Geld bitte, bekomme ich 300 Euro, wenn ich persönlich auftauche, bekomme ich 3.000 Euro.“
Armin Kraft selbst ist derzeit nicht zu sprechen, sein Anwalt verweist auf seine „gesetzliche Verschwiegenheitsverpflichtung“: „Ohne eine Befreiung durch meinen Mandanten kann ich demgemäß eine Stellungnahme nicht abgeben. Mein Mandant ist für mich auch zur Zeit nicht erreichbar, weil er in einem auswärtigen Krankenhaus liegt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“