Wutbürger im Luxuswohnblock

HOCHHAUS J. G. Ballard findet ein starkes architektonisches Bild für eine zerfallende Gesellschaft

Ein kleines Risiko gibt es ja, wenn man einen Roman zum ersten Mal liest, nachdem man seine Verfilmung gesehen hat. Die Figuren, die einem im Buch begegnen, bekommen bei der Lektüre dann leicht die Gesichter der Schauspieler verpasst. So geschehen mit „High-Rise“, der schwarzen Gesellschaftssatire J. G. Ballards aus dem Jahr 1975.

Im Juni war Ben Wheatleys Leinwandadaption des Stoffs in die Kinos gekommen, fast zeitgleich hat der Verlag Diaphanes die revidierte Übersetzung Michael Koselers von „High-Rise“ veröffentlicht. Dass die Protagonisten Robert Laing und Anthony Royal für einige Leser bis auf Weiteres mit den Darstellungen durch Tom Hiddleston und Jeremy Irons gekoppelt sein werden, ist so schlimm aber nicht: Optisch gibt es wenig zu klagen.

Ballards Romanvorlage scheint dabei fast altmodisch: Ein neu entworfener Hochhauskomplex für die Mittelschicht am Rande Londons wird eingeweiht und von seinen Erstbewohnern – Ärzten, Journalisten, Unternehmern – zunächst begeistert als architektonische Avantgarde gefeiert. Dies buchstäblich begriffen, bei Ballard wird im Haus anfangs täglich und exzessiv gefeiert. Am nächsten Morgen begibt man sich zum vor dem Gebäude geparkten Fahrzeug und eilt verkatert zur Arbeit.

Schnell lässt Ballard jedoch deutlich werden, dass er die vertikale Ausrichtung des titelgebenden Bauwerks, zugleich praktisch einziger Ort der Handlung, als Metapher für die soziale Hierarchie im Haus verstanden wissen will: Der Neurologe Robert Laing wohnt in einer der mittleren Etagen, weiter unten hat die Familie des Dokumentarfilmers Richard Wilder ihre Wohnung, und ganz oben im Penthouse residiert der Kopf hinter dem Bauprojekt, der Architekt Anthony Royal. Sie begegnen einander im Verlauf der Handlung immer wieder, erst freundlich, später zunehmend reserviert bis offen feindlich.

Bald folgt Waffengewalt

Der Katalysator für diese gesellschaftliche Polarisierung im Haus ist die Technik, die sich als störanfällig erweist. Aufzüge fallen aus, Müllschlucker versagen ihren Dienst, immer wieder fällt der Strom gleich in mehreren Stockwerken aus. Die Technik ist denn auch der eigentliche Zivilisationskitt, durch dessen Wegbrechen das Verhalten der Menschen mehr und mehr archaisch gerät. Streng von oben nach unten geordnet, bilden die Männer etwa Clans, die nachts durch die Stockwerke ziehen, Bollwerke gegeneinander errichten und sich brutal bekämpfen. Beginnend mit Prügeleien, folgt bald Waffengewalt.

Diesen Prozess bettet Ballard weniger in eine Handlung ein, als dass er ihn ausführlich bebildert und regelmäßig mit theoretischer Nüchternheit kommentiert. Der ironisch-distanzierte Tonfall will nicht ins Geschehen hineinführen, sondern den Abstand zwischen Leser und Protagonisten so groß wie möglich halten. Man folgt dieser ausweglosen Wohlstandverwahrlosung gleichwohl sehr gern, selbst wenn man sich regelmäßig fragt, ob das jetzt ewig so weitergehen wird. Es wird.

Dass Ballard in fast schon sadistischer Freude das Scheitern des Luxuswohnblocks schildert, mag befremdlich wirken. Hier liegt andererseits die Stärke des Buchs, denn die Gewalt und die entsolidarisierte Gesellschaft, der man darin begegnet, erscheint keinesfalls überholt. Sie ist vielmehr wie auf die Gegenwart von Brexit, Wutbürgern und einem nach außen hin abgeschotteten Europa zugeschnitten. Lediglich das Szenario hat etwas antiquiert Futuristisches. Das macht „High-Rise“ aber – bei aller Boshaftigkeit – im Grunde überhaupt erträglich. Tim Caspar Boehme

J. G. Ballard: „High-Rise“. A. d. Englischen von Michael Koseler. Diaphanes, Berlin 2016, 256 S., 17,95 Euro