: Märchenhafte Nähe im Deutschordensmuseum
Konzerte Archie Shepp im Doppelpack: Erst beim Tribute to John Coltrane bei Enjoy Jazz in Heidelberg und dann ganz exklusiv mit Reggie Workman in Bad Mergentheim
von Franziska Buhre
Zwischen offenherzigem Enthusiasmus und Sensationslust liegt beim Jazzpublikum manchmal ein schmaler Grat. Wenn betagte afroamerikanische Innovatoren dieser Musik auf die Bühne treten, wird die Geschichte des Jazz live fortgeschrieben, zugleich erlauben Konzerte mit der Saxofonlegende Archie Shepp auch sehr persönliche Fantasien darüber, wie munter, ideenreich und geborgen man sein könnte, sollte man sein heutiges Alter, 79, jemals erreichen.
Die Nähe, in welcher zweihundert ZuhörerInnen Shepp und seinen Altersgenossen, den Bassisten Reggie Workman, vergangenen Samstag erleben konnten, ist märchenhaft. Denn mit vereinten Kräften von Förderern, Fürsprechern und kommunalen Einrichtungen war es dem Veranstalter gelungen, die beiden Musiker für ein Konzert in der baden-württembergischen Kleinstadt Bad Mergentheim zu gewinnen. Eine Sensation für sich und eine naheliegende Idee, sind die beiden doch gemeinsam in Philadelphia aufgewachsen, haben beide Alben mit John Coltrane aufgenommen und sind einander durch gemeinsame Einspielungen verbunden.
Glücksmomente mit Shepp
Doch Shepp lebt seit über 20 Jahren bei Paris, Workman in den USA, ihre Wege kreuzen sich selten. Nun wirkt der intime Rahmen ihrer Begegnung im Deutschordensmuseum in Bad Mergentheim eher beklemmend. Die Schwerstarbeit Workmans auf dem Kontrabass wird hier nicht von Klavier und Schlagzeug aufgefangen, wie in einer Band, stattdessen wirkt er bloßgestellt. Auch wenn Shepp mit seinen Improvisationen und seinem unnachahmlichen Gesang für Glücksmomente sorgt, ist beiden der enorme Kraftakt anzumerken, den es braucht, die Songs zusammenzuhalten. Eine zwiespältige Angelegenheit zwischen Ehrerbietung, Schaulust und der Notwendigkeit der Musiker, in hohem Alter noch Geld verdienen zu müssen.
Von einer anderen Bedeutsamkeit getragen war hingegen das Konzert der beiden mit drei weiteren Musikern am Abend zuvor in Heidelberg. Zum Abschluss des Enjoy Jazz Festivals, das über sechs Wochen in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen 60 Veranstaltungen präsentierte, stand am Freitag eine Hommage an John Coltrane auf dem Programm, denn am 23. September wäre der Saxofonist, Mentor und Weggefährte Archie Shepps 90 Jahre alt geworden. Über drei Dekaden jünger als Shepp und Workman sind der Pianist Jason Moran, dessen langjähriger Bandkollege, der Schlagzeuger Nasheet Waits und der Trompeter Amir ElSaffar. Auf der Bühne der Heidelberger Stadthalle lief diese einmalige Musikerkonstellation zu überragender Form auf.
Shepp, wie stets von der Hutkrempe bis zur Schuhspitze exzellent gekleidet, vollzieht die Huldigung mit einer so überraschenden wie treffenden Auswahl an Kompositionen, die Verbindungen aufzeigt zwischen 30er-Jahre-Balladen und Shepps politisch bewegtem Blues der 1960er Jahre, zwischen seinen Vertonungen kollektiver afroamerikanischer Praktiken und Coltranes berückenden Widmungen an wichtige Frauen in seinem Leben.
Die Stücke, die Coltrane für seine Stieftochter, Cousine und seine erste Frau schrieb und auf dem Album „Giant Steps“ verewigte, waren ebenso Teil der ersten Aufnahmen Shepps für das Impulse!-Label, die Coltrane für seinen Kollegen entscheidend angebahnt hatte. Beim Konzert beflügeln Shepps multisensorische Aufmerksamkeit für jede musikalische Regung um ihn herum, seine ruhige und strahlende Bühnenpräsenz, die Synthese von Sprechgesang und hymnischen Melodien in seinem Saxofonspiel, die anderen Musiker von der ersten bis zur letzten Minute. Unter Jason Morans Händen keimt, sprießt und erblüht sofort ein Garten auf der Klaviatur, in dem er mühelos auf den Fährten einstiger Pianisten wandelt und eigene Pfade einschlägt.
Innovativer Anker
Selbst seine kurzen Improvisationen sind opulent, im Verbund mit Bass und Schlagzeug ist Moran ein so sicherer und doch beständig innovativer Anker, dass Archie Shepp zu längeren Höhenflügen ansetzen kann. Als er bereits beim zweiten Stück die junge Sängerin Marion Rampal auf die Bühne bittet, scheint das die Coltrane-Jünger im Publikum zu irritieren. Rampals Gesang aber aktualisiert Shepps Blues-Manifest für den 1971 im Gefängnis ermordeten Black Panther George Jackson und die Stimme einer Sklavin, deren Würde nicht Teil der Gewaltspirale wird, sondern sich ungebrochen Gehör verschafft.
Shepps Musik bewahrt dieses Feuer und macht zugleich bewusst, wie unerbittlich sich Geschichte innerhalb weniger Jahrzehnte wiederholt. Für seine mahnenden und versöhnlichen Botschaften wird Shepp am Ende des Konzert mit Jubel und Standing Ovations gefeiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen