Der Punk-Kinder-AutorIn den Wendejahren hat er Häuser besetzt, später als Sozialarbeiter echt schwierige Jugendliche betreut. Seit einigen Jahren „traut“ sich Kai Lüftner, wie er selbst sagt, endlich, Musik und Bücher für Kinder zu schreiben. Ein Gespräch über Leben in Köpenick, Tattoos und wie man als Punk der Unterhaltungsindustrie trotzen kann
: „Ich hab ein Faible für Außenseiter“

„Ich will nicht, dass mir einer reinredet, ist doch klar“: Kai Lüftner auf einem Spielplatz in – natürlich – Köpenick

Interview Susanne Messmer
Fotos Amélie Losier

taz: Herr Lüftner, was haben Sie sich denn auf Ihre Finger tätowiert?

Kai Lüftner: Mein Geburtsjahr.

Ganz schön mutig!

Stimmt. Es ist schon ein wenig speziell, wenn man auf diese Art etwas Persönliches preisgibt. Aber ich mag es irgendwie.

Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, frage aber trotzdem: Wo sind Sie denn noch tätowiert?

Na ja, Brust, Arme und so weiter – aber es ist noch ein bisschen Platz. Schwierig wird es nur, wenn man sich mehrmals übertätowieren lassen muss, weil man irgendwelche Bands nicht mehr so mag.

Seit wann tätowieren Sie sich denn?

Seit ich 16 bin. Da bin ich von zu Hause ausgezogen. Ich musste erst mal raus aus Köpenick.

War es denn zu Hause so schlimm?

Überhaupt nicht. Es war okay. Meine Mutter war Juristin, mein Vater Gewichtheber.

Klingt abenteuerlich!

Heute wäre das exotisch, in der DDR war das normaler: Die Arbeiter und die Eliten waren nicht so weit auseinander.

Was war das für eine Zeit, als Sie ausgezogen sind?

1989 war ich 14, alles war auf einmal hinfällig. Es galt nichts mehr.

Was haben Sie gemacht?

Ich habe mich mit all den Punks und Hausbesetzern in Mitte und Friedrichshain herumgetrieben. Was sonst?!

Saufen, kiffen, abhängen – das ganze Programm?

Ja, das ganze.

Auch gekloppt?

Auch gekloppt!

Wir sitzen hier in einem Café in der Köpenicker Altstadt, Sie wohnen gleich um die Ecke. Warum sind Sie wieder hier?

Ich habe nach ein paar Jahren kapiert, dass mir die Herumtreiberei nicht nur nicht guttut, sondern dass ich eben Köpenicker bin. Wir sind hier ein spezieller Menschenschlag. Es ist sehr dörflich, ich kenne Menschen von Geburt an. In welcher Großstadt gibt es denn so etwas?

In Köpenick hat bei der Abgeordnetenhauswahl Mitte September ein Viertel der Menschen AfD gewählt.

Großes Thema, stimmt. Aber andererseits auch nichts Neues: Vor 14 Jahren ist die NPD-Bundeszentrale nach Köpenick gezogen. Ich engagiere mich seit Jahren dagegen. Allerdings kann und will ich nicht mehr auf jede Anti-Nazi-Demo rennen. Dafür versuche ich, mit den Leuten im Gespräch zu kommen. Eine große Herausforderung.

Inwiefern?

Besonders schwierig ist es in Bezug auf meinen Sohn. Was soll man da machen, wenn der sich mit jemandem anfreundet, mit dessen Eltern man lieber nicht befreundet sein will?

Aber Sie haben hier auch ein paar nette Nachbarn, oder?

Kai Lüftner

Der Mensch: Kai Lüftner, geboren 1975, arbeitete als Streetworker, Sozialarbeiter, Pizza­fahrer, Türsteher, Konzertveranstalter, Radioredakteur, Werbe- und Liedtexter, Kabarettist, Alleinunterhalter und Comedy-Autor, bis er 2012 seine ersten Kinderbücher schrieb. Er lebt mit Frau und Sohn in Köpenick.

Die Musik: 2014 und 2015 erschienen zwei CDs für Kinder unter dem Namen „Rotz‘n Roll Radio“. Sie sind aufgebaut wie eine Radiosendung mit Moderationen zwischen den Songs, enthalten Titel wie „Kacke sagt man nich“ und „Was so alles doof ist“, außerdem wirken bekannte Schauspieler und Kabarettisten wie Anna Thalbach, Bürger Lars Dietrich, Oliver Kalkofe dabei mit. 2017 wird seine dritte CD erscheinen.

Die Literatur: Kai Lüftner hat 16 Kinderbücher geschrieben, darunter „Die weltbeste Lilli“ und „Milchpiraten“. Drei Bände unter dem Titel „Das Kaff der guten Hoffnung“ erzählen von Kalle, ­einem Jungen, der 136 Kinderheime von innen gesehen – und sie schnell wieder verlassen hat. Gerade ist Kai Lüftners erster Band der Reihe, „Die Finstersteins“, erschienen. Sie handelt von Fred, Sohn einer Friedhofswärterin, der, statt vor dem Fernseher zu hocken, kontrolliert, ob auch alle Grüfte gut verschlossen sind – oder den Alibi-Trauergast spielt, wenn zu wenige Leute zu einer Beerdigung kommen.

Die nächsten Lesungen: 3., 4. Dezember, Weihnachtsmarkt Holy Horst im Mellowpark, An der Wuhlheide 250–256. Weitere Termine: www.kailueftner.de

Ja logisch – eine interessante und spannende Community: viele Kulturschaffende, Künstler, Kreative.

Sie haben als Bauarbeiter, Türsteher, Pizzalieferant, Sozialarbeiter und Kabarettist gearbeitet, haben Texte für die Comedians Cindy aus Marzahn und Oliver Kalkofe geschrieben. Wie kamen Sie darauf, selbst kreativ zu werden und Musik und Literatur für Kinder zu produzieren?

Ich wollte keine Kompromisse mehr machen, nicht mehr für andere arbeiten. Nichts mehr machen, womit man sich nicht wohlfühlt. Ich wollte mein Herz auf den Tisch legen.

Warum?

Eigentlich wollte ich gar nicht mehr darüber reden. Andererseits wäre es vielleicht auch komisch, es hier nicht zu erzählen. Ich war ja mit dem Thema sogar schon bei Lanz … 2006 haben meine Frau und ich zwei Kinder verloren, unsere Zwillinge. An einer Streptokokken-Infektion. Das hat alles verändert. Es hat gewisse Dinge in meinem Leben ziemlich geradegerückt.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Das macht überhaupt nichts. Machen Sie einfach weiter.

Okay. Sie hätten alles Mögliche machen können. Warum Kinderbücher und Kindermusik?

Am Anfang war die Musik nur ein Nebenprodukt. Als wir 2008 unseren Sohn bekommen haben, musste ich bald feststellen, wie viel mittelmäßige Kinderliteratur es gibt. Ich habe von vielen Büchern, die ich ihm vorgelesen habe, echt schlechte Laune bekommen.

Also haben Sie begonnen, für Ihren Sohn Kinderbücher zu schreiben?

Ja genau. Und dann gab es ein Hörbuch zu meinem ersten Buch, „Milchpiraten“, das ich mit Bürger Lars Dietrich aufgenommen habe. Bei den Aufnahmen ließ ich eine Kamera laufen. Die Sachen, die ich da aufgezeichnet habe, waren so gut, dass ich Lust bekam, ein Video daraus zu machen. Für ein Video braucht man auch einen Song. So entstand mein erster Song für Kinder, der „Milchpiraten“-Song. Dieses Video wurde geklickt wie verrückt. Also machte ich meine erste CD unter dem Namen „Rotz’n Roll Radio“. Und die ging total durch die Decke.

Für viele sind Ihre Songs Punk für Kinder: angenehm pädagogisch wertlos, schlagfertig, witzig, anarchisch, schnell. Und dazu diese breite Berliner Schnauze, die natürlich hervorragend passt.

Das freut mich sehr, dass Sie das so sehen.

Warum?

Das Berlinern war einer der wichtigsten Gründe für die Art und Weise, wie nun meine dritte CD mit „Rotz’n Roll Radio“ jetzt im Alleingang entsteht. Das Ganze ging so los: Ich war ja mit den ersten beiden CDs bei einem recht kleinen Hörbuchverlag. Und die haben im Grunde gesagt, dass sie mich nicht mehr schaffen. Wir haben uns einvernehmlich getrennt: Ich bin den Mädels dort nach wie vor in Loyalität und Freundschaft verbunden. Alle meine Hörbücher erscheinen hier weiterhin.

Und was hat das mit dem Berlinern zu tun?

Ich habe dann verlautbaren lassen, dass ich ein neues Label suche. Und da kamen sie alle an, „die Großen“. Und die haben mir tatsächlich gesagt: „Wir können dich ganz groß machen, Kai. Wenn du zum Beispiel auf deinen Dialekt verzichtest.“ Außerdem wollten sie, dass ich nur noch HipHop mache und keine traurigen Songs mehr.

Was? Das passt doch überhaupt nicht zu Ihnen!

Ja, genau. Ich hab schon vor 20 Jahren in einer Punkband gespielt, da komme ich her. Es geht mir gar nicht darum, die fette Kohle zu machen und immer größer zu werden. Sondern es muss sich gut anfühlen. Und wenn da plötzlich nur noch vom Händlerabgabepreis und vom Nettoreinerlös die Rede ist, dann ist das definitiv nichts, was sich bei mir gut anfühlt. Ich bin doch kein Schuhverkäufer!

Deshalb machen Sie die neue CD nun allein.

Ich will nicht, dass mir einer reinredet, ist doch klar. Aber um sich eine CD leisten zu können, muss man entweder Monate auf Tour gehen und die Familie allein lassen, was einem echt das Herz zerreißen kann –, oder man muss eben ein Crowdfunding machen.

Hat es geklappt mit dem Geld?

Das kann man wohl sagen.

„Ich hab schon vor 20 Jahren in einer Punkband gespielt, da komme ich her. Es geht mir nicht um die fette Kohle“

Also gehen Sie jetzt ins Studio?

Ganz genau.

Und wie wird die neue CD heißen?

„Jubel, Trubel, Heiserkeit“.

Bekommen wir einen kleinen Vorgeschmack?

Klar! Es gibt einen Song, den mag ich besonders. Mein Sohn hat ihn geschrieben. Er handelt von einem Professor in China, Professor Wuwanwau. „Der war nicht nur ein bisschen, sondern unbeschreiblich schlau.“ Und das geht dann immer so weiter, und dann endet das Lied mit der Strophe: „Doch gibt es eine Sache, die ist ziemlich interessant. Ein richtiges Geheimnis, das ist niemandem bekannt. Denn hat er keine Ahnung, der Professor Wuwanwau, dann fragt er: seine Frau.“

Klingt witzig. Also, ich meine: Klingt auch in meinen erwachsenen Ohren witzig. Warum ist es so schwierig, Literatur und Musik für Kinder zu finden, die auch die Eltern gut finden können?

Mein zweite Record-Release-Party habe ich hier in Köpenick gemacht. Da waren mehr als 1.500 Leute. Väter und Mütter, von denen die Hälfte vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert waren und bei denen die Security oft nicht wusste, wo sie ihnen den Einlassstempel hindrücken sollten. Solche Leute gibt es: Man muss sie nur abholen und mitnehmen!

Stattdessen gibt es wahnsinnig viel Literatur und noch mehr Musik, die auf nett und niedlich macht.

Die Kinder werden total genormt. Erstleser, Zweitleser, Jungs, Mädchen, Zielgruppe hier, Zielgruppe da.

Und später hören sie alle Plastikmusik.

Eben. Ich frage mich oft, wo das große klassische Familienentertainment eigentlich hin ist? Warum gibt es eigentlich keine Kästners, Preußlers, Endes mehr? Keine Reinhard Lakomys, keine Frederick Vahles? Dazu gehört für mich auch, dass viele Kinderbücher aus der DDR, die ich bis heute richtig klasse finde, gar nicht mehr lieferbar sind. Oder ein anderes Beispiel: Kennen Sie „Die Wilden Kerle“?

Ja.

Und wissen Sie, wer die Bücher geschrieben hat?

Nein.

Das war Joachim Masannek. Der hat über zwölf Million Bücher verkauft. Das ist ein Weltstar. Und keiner kennt seinen Namen. Warum eigentlich nicht?

Liegt es nicht auch an den Autoren und Musikern selbst?

Ja klar. Viele machen sich selbst irgendwie klein.

Lüftners rechte Hand mit seinem Geburtsjahr

Von Ihnen kann man das nicht behaupten. Sie haben in kurzer Zeit viele Bücher geschrieben.

16 Stück bei 12 verschiedenen Verlagen.

Sind Sie jetzt reich?

Sehe ich etwa so aus? Der Vorschuss für ein Kinderbuch entspricht ungefähr dem Tagessatz eines Ghostwriters für einen bekannten Kabarettisten.

Gerade ist Ihr erster Band von „Die Finstersteins“ über einen Jungen erschienen, den Sohn einer Friedhofswärterin.

Ich habe ein Faible für Außenseiter.

Auch in den beiden Bänden vom „Kaff der guten Hoffnung“ ist der Held so ein Typ. Kalle hat bislang 136 Kinderheime von innen gesehen …

Wissen Sie, ich war irgendwie immer von diesen harten Typen umgeben, von diesen Brechern. Die sind zu mir gekommen, wenn ihr Hamster gestorben ist. Deshalb bin ich dann, glaube ich, später auch Sozialarbeiter geworden. Ich habe in Schöneberg oder in Lichtenberg mit Jungs gearbeitet, die keiner mehr wollte. Mit Schulverweigerern, Kriminellen und so weiter. Das waren Kinder, die kein einziges Buch zu Hause hatten, aber jede Tastenkombination von „GTA5“ [„Grand Theft Auto 5“, ein Computerspiel, d. Red.] auswendig konnten. Mit türkischem, kurdischem, albanischem Hintergrund. Oder eben Punks!

Waren Sie beliebt bei denen?

Ich hatte noch lange Kontakt mit einigen meiner Jungs. Meine Frau und ich: Wir hatten ja hier in Köpenick mal ein Café, direkt am Wasser. Und da hatten wir einige von ihnen bei uns angestellt. Die hatten die schlechtesten Sozialprognosen aller Zeiten. Und ich habe dennoch niemandem so sehr vertraut wie denen. Wir waren eine Familie.

Sie haben diese Jungs wirklich rausgehauen.

Richtig. Übrigens im wahrsten Sinne des Wortes.

Ja?

Das waren teilweise Jungs, die noch nie ihren Kiez verlassen hatten. Deshalb bin ich damals mit denen durchaus auch mal nach Köpenick gefahren, in mein Dojo.

Über seine Klientel als Sozialarbeiter:

Ich hatte noch lange Kontakt mit einigen meiner Jungs. Meine Frau und ich haben sie in unserem Café angestellt. Die hatten die schlechtesten Sozialprognosen aller Zeiten – ich habe dennoch niemandem so sehr vertraut wie denen.

In was, bitte?

In den Trainingsraum, wo ich Kampfsport mache. Da habe ich denen erst mal gezeigt, wie man sich verteidigt. Ohne große Fresse und ohne Kumpels in der Hinterhand. Nach anderthalb oder zwei Stunden Jiu-Jitsu und der Zugfahrt zurück konnte ich mit denen alles machen. Ich konnte denen erklären, was ein Anagramm ist oder Englisch lernen.

Ehrlich?

Wir haben Erich Kästner und Michael Ende gelesen. Wir haben gekocht. Das hat alles funktioniert. Weil sie gemerkt haben: Ich bin authentisch. Ein Typ, bei dem man Stress bekommt, wenn man will, mit dem man aber auch heulen kann, wenn gerade „Flipper“ im Fernsehen kommt.

Warum haben Sie die Sozialarbeit aufgegeben?

Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, so viel Zeit am Schreibtisch verschwenden zu müssen. Da war zum Beispiel mal ein Junge, geschlagen, missbraucht. Ich fand, der müsste mal in den Heide Park. Aber um die 42 Euro zu bekommen, die es dafür brauchte, musste ich gefühlt zwei Wochen lang Anträge ausfüllen. Da habe ich gemerkt: Das liegt mir nicht nur nicht, sondern da werde ich aggressiv. Da konnte ich einfach nicht weitermachen.

Was würden Ihre Jungs sagen, wenn sie Sie heute sehen könnten als Kinderbuchautor und Musiker?

Die wären stolz auf mich, auf die Kartoffel, schätze ich. Wissen Sie: Die wissen ganz genau, was es bedeutet, „anders zu sein“. Und sich dennoch vor ein großes Publikum zu stellen und sagen: Mein neues Buch heißt „Die weltbeste Lilli“. Ich musste immerhin auch fast 40 werden, bis ich das konnte. Bis ich mich getraut habe.

Fehlen Ihnen diese Jungs?

Schon. Wo ich auch lese, von Lübeck bis Blaubeuren: In jeder meiner Lesung sitzen immer so zwei, drei, fünf jüngere Exemplare, wie ich sie kenne. Und wissen Sie was? Die sind mir immer noch die liebsten.

Und kriegen Sie sie noch immer?

Ja, meistens schon. Weil ich sie halt kapiere.