Mit sich und der Welt überfordert

LITERATUR In „Nullzeit“ gerät ein Aussteiger zwischen die Fronten eines deutschen Pärchens und verliert dabei die Kontrolle über sein Leben. Heute und morgen stellt die Schriftstellerin Juli Zeh ihren neuen spannenden Roman in Hannover und Bremen vor

„Nullzeit“ ist ein Psychothriller, der im Wechsel aus zwei Perspektiven erzählt wird

VON JENS LALOIRE

Sven arbeitet seit 14 Jahren als Tauchlehrer auf Lanzarote und genießt die Freiheit, sich aus allem rauszuhalten. Vor allem jedoch entzieht er sich auf der Insel dem Druck der Leistungsgesellschaft, der ihn in Deutschland zu zerquetschen drohte. „Deutschland“, das ist für ihn bloß noch „der Name eines Systems, in dem es nur darum ging, was wem gehörte und wer woran Schuld trug“. Dass dieses System nicht einfach abgeschüttelt werden kann, begreift er nach und nach, als die Schauspielerin Jola und der Schriftsteller Theo in sein Leben treten. Die beiden haben einen zweiwöchigen Exklusivtauchkurs bei ihm gebucht; doch Jola und Theo sind kein gewöhnliches Paar, sie scheinen einander zwar zu lieben, aber nicht minder zu hassen. Dieses ambivalente Verhältnis entlädt sich täglich in gegenseitigen Attacken – sowohl verbaler als auch körperlicher Art. Sven gerät zwischen die Fronten, wankt zwischen Faszination und Abscheu und verfällt immer mehr den Reizen Jolas, die lasziv mit ihm flirtet und Theo damit demütigt. Svens Lebensmotto – sich nicht in die Probleme anderer einzumischen und einfach abzuwarten, bis sich die Probleme von selbst lösen – wird ihm schließlich zum Verhängnis.

Die Dreiecksbeziehung zwischen Sven, Jola und Theo steht im Zentrum des neuen Romans der Autorin Juli Zeh. „Nullzeit“ ist ein Psychothriller, der im Wechsel aus zwei Perspektiven erzählt wird: zum einen im Rückblick aus der Sicht von Sven, zum anderen durch Jolas allabendliche Tagebucheinträge. Enorme Spannung erzeugen die Perspektivwechsel dadurch, dass sich die beiden Erzähler in der Darstellung gemeinsamer Erlebnisse widersprechen. Dem Leser werden zwei Wirklichkeiten präsentiert, von denen nur eine stimmen kann. Es bleibt die Frage: Warum lügt einer der beiden? Diese Frage treibt einen beim Lesen durch die Seiten. Zehs Roman ist jedoch kein banaler Beziehungsthriller, sondern verhandelt mithilfe der Dreierkonstellation Fragen von Macht, Schuld und Manipulation. Hinzu kommt die Kritik an Deutschland, dem Kapitalismus sowie der Leistungsgesellschaft – und im Hintergrund flackert die bereits seit Jahren allgegenwärtige Krise auf.

Politische und rechtsphilosophische Probleme scheinen die promovierte Juristin besonders zu reizen. Bereits in ihrem 2004 veröffentlichten Roman „Spieltrieb“ rückt Zeh eine Dreiecksbeziehung ins Zentrum, um Fragen der Moral, des Pragmatismus und der Machtlust einzelner Individuen zu beleuchten. In ihrem Science-Fiction-Roman „Corpus Delicti“ (2009) entwickelt sie die Dystopie einer Gesundheitsdiktatur, die ihre Bürger entmündigt, indem sie diese zu einer gesunden Lebensweise zwingt. Das Vordringen des Staates in die Privatsphäre seiner Bürger ist ebenfalls Thema in „Angriff auf die Freiheit“. Das Pamphlet hat Juli Zeh 2009 gemeinsam mit dem Schriftstellerkollegen Ilija Trojanow verfasst. Darin warnen die beiden vor den Gefahren, die so genannte staatliche Sicherheitsvorkehrungen wie Videoüberwachung, Online-Durchsuchungen oder biometrische Reisepässe für die Freiheit jedes Einzelnen mit sich bringen. Dass ihr dieses Thema besonders am Herzen liegt, bewies Juli Zeh bereits ein Jahr zuvor, als sie beim Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen den biometrischen Reisepass einreichte.

Die 38-jährige Zeh darf also durchaus eine politische Autorin genannt werden, auch wenn ihr neuer Roman kein explizit politisches Buch ist. „Nullzeit“ ist vielmehr ein Gegenwartsroman, der drei mit sich und der Welt überforderte Charaktere miteinander ringen und aneinander zerschellen lässt – obwohl sie alle das gleiche Ziel haben: einen Ort finden, an dem sie sich geborgen fühlen dürfen.

■ Hannover: Do, 6. 12., 20 Uhr, Literarischer Salon Hannover, Königswörther Platz 1; Bremen: Fr, 7. 12., 19.30 Uhr, Schwankhalle, Buntentorsteinweg 12