Schmerz und Atem, Trakl und die lichte Muse

1913 Im Jahr 1913 herrschen Aberglaube und nervöse Leiden, die Moderne triumphiert. Fans von „1913“ halten das Buch in der Hand, während der Autor Florian Illies am Dienstag im Literaturforum im Brecht-Haus gewohnt lakonisch daraus vorliest

Erst im Nachhinein erscheint das Jahr 1913 voller Vorzeichen des kommenden Krieges

Wenn Hitler und Stalin sich jemals persönlich begegnet sind, dann im Januar 1913 als No Names im Park von Schloss Schönbrunn. Vielleicht haben sie sich höflich gegrüßt, wer weiß. Wichtig sind damals noch ganz andere: Kaiser Franz Joseph regiert seit 65 Jahren, in Berlin herrscht der „Prinz“ Else Lasker-Schüler, zumindest über Gottfried Benn. Franz Marc und Wassily Kandinsky arbeiten derzeit in München, Sigmund Freud in Wien, ebenso wie Alma Mahler, die alle Männer verzaubert, die ihr zu nahe kommen.

Wenn Florian Illies wie am Dienstag im Literaturforum im Brecht-Haus aus seinem Bestseller „1913“ liest, dann wird die internationale Welt der europäischen Moderne lebendig. Dabei gibt sich der Autor mündlich genauso lakonisch wie im geschriebenen Text: In zwölf Kapiteln, die mit dem Januar beginnen und „überraschend“ mit dem Dezember enden, erzählt Illies von diesem Europa vor den zwei Weltkriegen.

Die Anekdoten kombiniert er nach dem Prinzip Schmerz und Atem: Auf das Pathos folgt die „lichte Muse“, danach kommt wieder „ein Trakl“. Das kleine Forum ist komplett gefüllt, die meisten Zuhörer halten das Buch in der Hand, nur ein Mann hält ein Brot.

Viele der Situationen und Briefe, die Illies zitiert, sind von sich aus schon komisch, allein die Kosenamen bringen zum Lachen: Max Weber nennt seine Frau „Schnauzerl“, und Heinrich Mann liebt gerade „Pummi“. Illies verhält sich während der Lesung indes gleichbleibend diskret, den Habitus des Intellektuellen musste er nicht erst verinnerlichen, er verkörpert ihn.

Nur den gedanklichen Anlauf, den Franz Kafka nimmt, um Felice zu fragen, ob sie „unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung“ seine Frau werden wolle, liest sogar Illies schnell und dramatisch. Kafka argumentiert: „Du würdest einen kranken, schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen.“ Der Arzt hatte Kafka ein nervöses Leiden attestiert. Sie scheint die Schriftstellerkrankheit dieses Jahres zu sein: Robert Musil leidet ebenfalls darunter, sogar Brecht zeigt die gleichen Symptome, und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre alt ist. Rilke reist das ganze Jahr aus Gründen der Empfindlichkeit vor dem Wetter davon.

Des Weiteren grassiert der Aberglaube. Gabriele D’Annunzio datiert sein „Martyrium des heiligen Sebastian“ vorsichtshalber auf „1912 + 1“, und Schönberg entscheidet sich aus gutem Grund für die Zwölftonmusik. Außerdem streicht er – um einen dreizehnbuchstäbigen Titel zu vermeiden – das zweite a aus dem Aaron seiner Oper „Moses und Aron“. Kafka begründet eine Überlegung, die als Verlobung beginnt und mit einem Gang zum Schafott endet, mit der 13 in der Jahreszahl.

Das Buch kommt zur rechten Zeit: 2013 erscheint im Spiegel von 1913 auf einmal viel verheißungsvoller – welche Jahrhundertwerke entstehen wohl im kommenden Jahr? Die Zeitgenossen heute sind wohl ebenso prognosenresistent wie damals. Erst im Nachhinein erscheint das Jahr 1913 voller Vorzeichen des kommenden Krieges. Aber Illies geht es nicht darum, ein Jahr zu zeichnen, in dem alles aufhört, sondern eines, in dem vieles anfängt. 1913 ist das Jahr des ersten schwarzen Quadrats von Malewitsch und des erste Readymades von Marcel Duchamp. „Diese Kunstwerke berühren heute genauso wie damals. Sie sind Gegenwart durch uns.

Anders verhält es sich mit dem Tagebuch von Arthur Schnitzler. Dessen eher alltägliche Notizen wirken erst im Nachhinein symbolisch: Am Silvesterabend schreibt Schnitzler, er habe Ricarda Huchs „Der große Krieg in Deutschland“ gelesen und sei ansonsten „tagsüber sehr nervös“ gewesen. Abends wurde Roulette gespielt.

CATARINA VON WEDEMEYER