Musikwerke Bildender KünstlerDie Ausstellung und Konzertreihe „Scores“ im Hamburger Bahnhof in Berlin
: Meta-Partitur

Jorinde Voigt, Radical Relaxation (I) bis (VII), Berlin 2016. Teil 1 der 7-teiligen Arbeit Foto: Abb.: smb

von Lorina Speder

Musiknoten sind eine Sprache, die nicht alle von uns sprechen. Buchstaben sind uns geläufig, das Lesen ist für uns alltäglich. Aber eine Partitur zu übersetzen in Musik, das passiert uns nicht oft, womöglich nie. In der Musikwelt ist relativ bestimmt vorgegeben, wie eine Partitur auszusehen hat – so wird offizielle Musik im klassischen Sinne in der Notenschrift dokumentiert.

Wenn man eine Partitur oder einen Score nun aber in den Kunst-Kontext bringt, dann kann Musik nicht nur aus Noten entstehen, sondern auch in Zeichnungen oder Filmen gesehen und gespielt werden. Die Ausstellung „Scores“, die seit gestern in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs gezeigt wird und die die Ausstellungsreihe „Musikwerke bildender Künstler“ fortführt, präsentiert alternative Scores von Saâdane Afif, Christian Marclay, Ari Benjamin Meyers und Jorinde Voigt. Musik wird hier von den vier zeitgenössischen Künstlern in Form von Zeichnungen, Dia-Shows oder Comic-Heften dargestellt. Die musikalische Umsetzung der Partituren ist dabei für uns als Besucher der spannendste Part, weil er uns faszinierende Eigenschaften des Mediums Musik entdecken lässt.

Visuelle Sekundenvorgaben

Jorinde Voigts meterlange, filigran gezeichnete Bilder sehen in der Ausstellung erst einmal aus wie medizinische Abbildungen oder wabernde Flüssigkeiten in der Schwerelosigkeit. Ihre vierfarbigen Partiturenbilder, die einen Teil des Werks „Song of the Earth“ darstellen, wurden mithilfe des zeitkratzer Ensembles musikalisch-assoziativ übersetzt. Auf den eingerahmten Notenblättern der Musiker findet man dafür Notizen wie Harmonien, Töne oder die Sekundenvorgaben über die Bilderausschnitte geschrieben. Obwohl man denken würde, dass Formen und Farben eher freier musikalisch interpretierbar sind, entgegnet Voigt, dass ihre Bilder konkret seien und die vorgetragenen Musikstücke immer gleich klingen – so wie das live halt möglich sei. Dass nicht viel Platz zum Improvisieren bleibe, liege an der genauen Sekundentaktung in den Partituren. Wie genau ihre teilweise in die Originalbilder geschriebenen Anweisungen wie „pulsierend“ oder „strömend“ klingen, können wir am Abend des Sonntags live von dem zeitkratzer Ensemble vorgetragen hören.

Im Gegensatz zu Voigts Präsentation steht bei Ari Benjamin Meyers’ Werk noch nicht fest, wie die Partitur am Ende aussehen wird. Der studierte Komponist und Dirigent aus New York City benutzt drei der Räume, um uns als Besucher in den Prozess des Komponierens eines Stückes eintauchen zu lassen. Für „Scores“ lässt er in seiner Auftragsarbeit „Who’s Afraid of Sol La Ti?“ die dazugehörige Partitur dieses Stückes vor unseren Augen erst entstehen. Dafür hat er Spielregeln entworfen. So füllt eine Subkontrabassflöte den ersten Raum mit den tiefen Klängen des musikalischen Hauptthemas. Wir erfahren hier den musikalischen Rahmen für die entstehende Komposition. In einem weiteren Raum präsentiert Meyers verschiedene Variationen um dieses Thema. Sie sind von sternartigen Formen umrandet, die sich spielerisch an der Wand entlangziehen. Diese beiden äußeren Räume bilden die Voraussetzung für die Entstehung der eigentlichen Partitur – der Prozess des Komponierens findet im mittleren Raum statt. Dort werfen Overheadprojektoren von Meyers kreierte visuelle Partituren an die Wand, die sich wie Straßenzeichen lesen. Dabei ist die Instruktion von Meyers, dass der Komponist Wojtek Blecharz die Zeichen und Sterne mit Inhalten – den Variationen des Nachbarraums – füllt. Er ist als ausführende Hand des Künstlers notwendig, da jede Sternenform sieben Variationen zulässt.

Tägliches Konzert

Die Art von Arbeit, indem ein Künstler die Vorgaben macht und jemand anderes sie ausfüllt, ist ein Verweis auf Sol LeWitt’s Instruction Pieces. So wird Belcharz jeden Tag eine neue sogenannte Metapartitur mit seinen ausgewählten Inhalten füllen und als Noten auf einen weiteren Overheadprojektor schreiben. Die Niederschrift der Partitur, die dann von der Flötistin Susanne Fröhlich gespielt wird, können wir jeden Tag miterleben.

Das tägliche Konzert wird manchmal von Belcharz’ Gesang unterstützt, bevor die entstandene Partitur vom Overheadprojektor einfach wieder weggewischt wird und eine Erinnerung bleibt. Eine interessante Geste, welche die generelle Bedeutung der Partitur in Frage stellt. Ist eine Dokumentation von Musik überhaupt notwendig? Am Folgetag wird Fröhlich die bisher notierten und weggewischten Stücke aus der Erinnerung wachrufen. Das Weitertragen der kreierten Musik passiert von nun an im Rahmen einer nicht sichtbaren Partitur, die unser und Fröhlichs Gedächtnis bilden. Das passt gut zu Meyers’ Auffassung, dass Musik ein lebendiges Medium sei. Nur live vorgetragen sei sie wirklich erlebbar und existent. Er kritisiert mit seiner Wegwisch-Geste den gesellschaftlichen Ansatz, dass Musik dokumentiert und dabei am besten vertont werden müsse. Genau das nimmt der Musik nämlich die Freiheit, die sie eigentlich besitzt. Meyers provoziert mit seinen Nichtpartituren und -regeln geradezu Abweichungen von den weggewischten Originalpartituren, indem er Fröhlichs Gedächtnis jeden Tag nach den bisherigen kreierten Kompositionen fragt. Die Wiedergabe der erinnerten Musik wird deshalb den künstlerischen Ansatz besitzen, dass man in diesen Abweichungen die Person Fröhlichs erkennen kann. Und das macht die Musik intim und lebendig.

Die Ausstellung „Scores“ ist somit auch ein Herantasten an die Fragestellung, wie wir Musik erleben – und dabei ist nicht unbedingt ihre Notation wichtig. Dass es auch ohne geht, machen die endgültigen Nichtpartituren von Meyers’ Beitrag deutlich. Obwohl die Partitur ein Teil im Entstehungsprozess seiner Musik ist, verliert sie nach der Übertragung der Musik in Töne an Bedeutung und lässt sich entbehren. Vielleicht klingt es paradox, doch unter dem Aspekt befreit die Ausstellung „Scores“ mit Meyers’ Analyse die Musik letztendlich vom einengenden Wesen der Partitur. Ein Score kann nämlich auch eine Erinnerung an die Musik sein, die wir nach dem Besuch in uns tragen.

bis 13. November, Hamburger Bahnhof, Berlin, Broschüre 5 €