Massengrab Mittelmeer

Flüchtlinge Überlebende in Italien berichten von zwei neuen Bootsunglücken mit bis zu 250 Ertrunkenen. Damit steigt die Zahl der Mittelmeertoten dieses Jahres auf über 4.000

Wie viele Leichen bergen die Wellen? Foto: Darrin zamit Lupi/reuters

Aus Rom Michael Braun

Schon jetzt liegt die Zahl der Toten im Mittelmeer für 2016 bei über 4.000, etwa 90 Prozent von ihnen starben bei der Überfahrt von Libyen nach Italien. Immer riskanter werden die Überfahrten, auf je 40 bis 50 Passagiere kommt mittlerweile ein Todesopfer. Am Donnerstag ging die Suche nach den Opfern des neuesten Dramas im Meer weiter, von dem Gerettete berichtet hatten und dem bis zu 250 Menschen zum Opfer gefallen sein könnten.

31 Flüchtlinge, so das UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, wurden am Donnerstag auf die Insel Lampedusa gebracht. Sie berichteten von zwei verschiedenen Bootsunglücken am Mittwoch. 29 Personen sagten aus, sie hätten sich auf einem voll besetzten Schlauchboot befunden, das in Seenot geraten sei; alle anderen Mitreisenden seien ertrunken. Zwei weitere Frauen sagten, sie seien auf einem weiteren Boot unterwegs gewesen, das ebenfalls untergegangen sei. Nur die beiden Frauen seien gerettet worden.

Da die Schlauchboote nach Aussage der Flüchtlinge mit jeweils 120 bis 140 Personen völlig überladen waren, wäre bei einer Bestätigung der Meldungen von 240 bis 250 Toten auszugehen.

Allerdings wollte das Zentralkommando der italienischen Küstenwache nur das erste der beiden Unglücke bestätigen. Ein Sprecher erklärte der taz, am Mittwoch sei ein Rettungseinsatz bei einem halb untergegangenen Schlauchboot etwa 25 Seemeilen vor der libyschen Küste erfolgt; 29 Menschen seien gerettet und 12 Tote geborgen worden. Die Suche wurde am Donnerstag fortgesetzt.

Die Schlauchboote schlagen oft kurz nach der Abfahrt leck oder verlieren Luft

Vor der libyschen Westküste um die Hauptstadt Tripolis, von der fast alle Boote in See stechen, ist mittlerweile ein massives Aufgebot an Rettungskräften im Dauereinsatz. Der Chef der EU-Marine-Mission Eunavfor Med, Admiral Enrico Credendino, rechnete am Mittwoch in einer Pressekonferenz in Rom vor, dass neben den neun Schiffen der Operation „Sophia“ 13 Schiffe von NGOs küstennah unmittelbar außerhalb der 12-Meilen-Zone der libyschen Hoheitsgewässer unterwegs sind. Hinzu kommen pro Tag etwa 100 Handelsschiffe sowie Einheiten der italienischen Küstenwache. Zwar ist der Hauptauftrag von Eunavfor Med die Bekämpfung der Schleuser, doch auch ihre Schiffe retteten im laufenden Jahr knapp 30.000 Menschen.

Zugleich hat sich aber auch das Geschäftsmodell der Schleuser geändert. Von den 377 im letzten Jahr von „Sophia“ aufgebrachten Schleuserschiffen waren 80 Prozent simple Schlauchboote. Diese Boote sind sieben bis acht Meter lang und gut zwei Meter breit, eines aber sind sie nicht: hochseetauglich. Aus schlechten Materialien gefertigt, schlagen sie oft schon kurz nach der Abfahrt leck oder verlieren Luft. Katastrophen sind damit vorprogrammiert.

Heftige Kritik übt derweil Amnesty International an den seit 2015 in Italien eingerichteten fünf Hotspots – vier von ihnen auf Sizilien, einer auf Lampedusa –, in denen Flüchtlinge registriert werden. So zitiert Amnesty in einem Bericht die Aussage eines 16-jährigen Sudanesen, der berichtete, er sei mit einem Elektroschocker malträtiert worden, um ihn zur Abgabe der Fingerabdrücke zu zwingen. Viele Flüchtlinge lehnen die Identifizierung in Italien ab, weil sie damit automatisch in ein Anerkennungsverfahren in Italien gezwungen werden, während ihre Zielländer oft nördlich der Alpen liegen.