Gewalt an der Grenze

AUS MELILLA REINER WANDLER

„Die Gewalt gegen die Immigranten nimmt zu“, sagt Javier Garaldón. Der Arzt ist Chefkoordinator von Ärzte ohne Grenzen (Medicins Sans Frontieres – MSF) in Marokko. Sein Team behandelt vor allem Menschen, die es von überall her auf dem schwarzen Kontinent an die Grenze der beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zieht. Dort versuchen die Flüchtlinge, den Grenzzaun zu Europa zu überwinden.

MSF hat jetzt einem Bericht mit dem Titel „Gewalt und Immigration“ vorgelegt. Das Bild ist erschreckend. „Jeder Vierte, der bei uns behandelt wird, wurde Opfer schlimmster Gewalt“, weiß Garaldón. Insgesamt haben Ärzte ohne Grenzen in den vergangenen zwei Jahren 9.350 Menschen geholfen. 52 Prozent der erfassten Gewaltakte gingen von marokkanischer Polizei und Armee aus, 15 Prozent von der spanischen Guardia civil. Der Rest wurde Opfer von Kriminellen oder von organisierten Schlepperbanden. Die gefährlichste Etappe auf der langen Reise ist der Grenzzaun. Viele Immigranten verletzten sich am Nato-Draht mit seinen messerscharfen Metallplättchen. Andere ziehen sich Knochenbrüche und Verstauchungen zu, wenn sie von dem drei Meter hohen Zaun nach unten springen.

Wer der spanischen Guardia civil in die Hände fällt, wird oft verprügelt oder aus nächster Nähe mit Gummikugeln beschossen. Auch Tränengas kommt zum Einsatz. Selbst schwer Verletzte und schwangere Frauen werden durch den Zaun zurück nach Marokko abgeschoben. Das ist nach internationalem Recht nicht zulässig. Bilder des Privatsender Tele 5 zeigten am Dienstagabend dem spanischen Fernsehpublikum, wie eine ganze Gruppe von spanischen Beamten zwischen den beiden Grenzzäunen auf einen am Boden liegenden Schwarzen einschlagen und eintreten, bevor sie ihn durch eine Tür im Zaun nach Marokko zurückschubsen.

Auf der anderen Seite fallen die Betroffenen dann den marokkanischen Gendarmen und Soldaten in die Hände. Wer zu stark verletzt ist, um zu fliehen, muss abermals mit Schlägen rechnen, bevor er inhaftiert und dann an die marokkanisch-algerische Grenze gebracht wird.

„Zwölf Menschen sind allein dieses Jahr beiderseits der Grenzzäune ums Leben gekommen“, weiß Garaldón. Wer gar versucht, gleich mit einem Boot hinüber an die Küste Südspaniens zu gelangen, lebt noch gefährlicher. Laut MSF haben in den letzten zehn Jahren 6.300 Menschen ihr Leben in den unberechenbaren Gewässern in der Meerenge von Gibraltar verloren. Die spanischen Behörden beziffern die Zahl der Toten dagegen auf 1.400.

Auf Drängen der Europäischen Union kommt es in den grenznahen Wäldern Marokkos, in denen sich die Schwarzafrikaner verstecken, immer öfter zu Razzien von Gendarmerie und Armee. „Auch dies erfolgt mit unglaublicher Gewalt“, sagt Garaldón. Polizisten, Soldaten und kriminelle Gruppen in ihrem Schlepptau brennen die notdürftig aufgebauten Folienzelte ab, berauben die Immigranten und treiben sie zusammen. Dann geht es auf Lkws zurück nach Algerien.

Die meisten versuchen es erneut. Sie sparen in Algerien wieder etwas Geld zusammen, um die Schleppermafia an der Grenze zu bezahlen. Auf dem Weg nach Melilla werden viele von Kriminellen überfallen und brutal ausgeraubt.

Je schwächer der Flüchtling, umso größer ist die Gefahr. So sind den Ärzten ohne Grenzen Fälle sexueller Übergriffe bekannt. Die marokkanischen Soldaten vergreifen sich nicht nur an Frauen, sondern auch an minderjährigen Jungen. Frauen droht nicht nur Gefahr seitens der Soldaten und Polizisten. Sie werden auf dem langen Weg durch Afrika oft Opfer von Vergewaltigung durch Einheimische oder auch durch ihre Weggefährten. So manche wird verschleppt, um sie später als Prostituierte zu verkaufen.