Worte wie Teppiche

Wegen der EU-Kulturhauptstadt-Bewerbung werden in NRW auch kleinere Festivals finanziert: Türkisch-deutsche Literatur findet in Essen via Straßenbahn auch an ungeliebten Orten statt

AUS ESSENPETER ORTMANN

Die blitzblanke Straßenbahn rumpelt langsam durch den Essener Norden. Quer durch die ungeliebten Stadtteile mit hohem Ausländeranteil. Die Linie hat auch keine Nummerierung. Dafür quillt ein Wort-Stakkato aus der Bahn. Drinnen liest Kerim Pamuk „Sprich langsam, Türke“. Er ist einer der neun Schriftsteller, die am ersten türkisch-deutschen Literaturfestival der Stadt teilnehmen.

Es geht um Migration zwischen Heimat und Anpassung. „In Essen leben über 56.000 Nichtdeutsche“, sagt Johannes Brackmann vom kleinen soziokulturellen Zentrum Grend im Stadtteil Steele. Das habe gerade das städtische Amt für Statistik herausgefunden. Und das seien nur die, die keinen deutschen Pass besäßen. Alle bereits integrierten Ausländer fielen aus der Zählung heraus. Mehr als 10 Prozent der Essener haben dennoch einen fremdländischen Hintergrund. „Die leben ihre Kultur, sind Musiker, Kabarettisten oder eben Literaten“, sagt Tacettin Binici vom Katakomben-Theater. Grund genug für „Literatürk“ – eine literarische Reise von der Türkei nach Deutschland und zurück. Die von Organisatorin Filiz Dogan ausgewählten Literaten sind Türken, die in ihrer Heimat leben, Türken, die in Deutschland leben und Deutsche, die über das türkisch-deutsche Verhältnis schreiben. „Nicht die üblichen Verdächtigen, sagt Dogan, die Erfahrungen von den Berliner Literaturtagen und der dort stattfindenden türkischen Woche mitbringt. In erster Linie habe sie nach ihrem Geschmack ausgewählt, will auch weniger bekannte türkische SchriftstellerInnen vorstellen. Wie Feyza Hepcilingirler aus Ismir. Die sei eine typische Vertreterin der „modernen türkischen Frau“, die trotz Familie und Beruf kreative Wege beschreite.

Eigentlich sei das Grend eher für Ruhrgebiets-Theater und Musik bekannt, sagt Brackmann. Aber weil Essen Modellstadt für das interkulturelle Handlungskonzept der damals rotgrünen Landesregierung sei, habe man sich zu diesem Schritt entschlossen und zum ersten Mal mit Literatur den Schritt in die Stadt und die Region gewagt. Erst nach eineinhalb Jahren habe man die finanziellen Mittel vom NRW-Fonds Soziokultur, Land und Stadt zusammen gehabt. Auch die Bewerbung der Region als Europäische Kulturhauptstadt 2010 sei hilfreich gewesen. Dadurch sei vieles einfacher geworden. Auch die Kooperation mit dem großen Melez-Musikfest, das fast zeitgleich in der Bochumer Jahrhunderthalle stattfindet. Gerade die europäische und die interkulturelle Karte versprechen im Spiel mit Görlitz um den begehrten Titel Kulturhauptstadt besonders zu stechen. „Beim europäischen Aspekt muss noch viel getan werden“, sagte diese Woche in Brüssel auch Helga Trüpel (Grüne), die als Europaabgeordente im Kulturausschuss des Parlaments arbeitet. Dort hatte der Essener Kulturdezernent Oliver Scheytt (SPD) die Kampagne der Stadt vorgestellt. Die neue Landesregierung ist von dieser Prämisse nicht abgewichen. Der neue NRW Staatssekretär für Kultur, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff habe umgehend ein Grußwort geschrieben. „Das hätte auch von Ex-Kulturminister Michael Vesper sein können“, lacht Grend-Chef Johannes Brackmann.

Die AutorInnen lesen bei „Literatürk“ an ungewöhnlichen Orten. Neben der Straßenbahn kann das Publikum an zwölf Veranstaltungen einen Einblick in die deutsch-türkische Literaturszene erhalten. Die sei wie ein bunter Kelim, der trotz seiner Formen- und Farbenvielfalt ein verbindendes Element beinhalte, sagt der Koooperationspartner Binici und gerät ins Schwärmen über Teppiche. In seinen Katakomben wird das Festival mit dem türkischen Kabarettisten Serdar Somuncu beendet. Der Prix Pantheon-Preisträger von 2004 wird dort seine neu zusammengestellte Show „Getrennte Rechnungen - Hitlerkebab“ präsentieren.

Eigentlich sollte „Literatürk“ auch in Moscheen und Kirchen stattfinden. Doch das ließ sich nicht realisieren, so Brackmann. Bei den Muslimen wollte kein Autor lesen und die christlichen Kirchen hätten spirituelle Themen verlangt. Die hatte jedoch keiner der Schriftsteller auf seiner Bücherliste.

20.-23.10.2005www.literatuerk.de