Wo wilde Wasser bergauf fließen

Paddeltouren der Gegensätze: Die Peene in Vorpommern ist der denkbar gemächlichste Fluss im norddeutschen Tiefland, die Örtze in der Südheide hingegen der quicklebendigste. Erlebnisreich aber sind beide, im Kanu ebenso wie im Kajak

Von Sven-Michael Veit

Unbeweglich steht er. Mitten im See, der mal ein Torfstich war und nun einer von vielen hundert Blinddärmen des Flusses ist. Der Reiher steht da, worauf auch immer, 30 Meter entfernt im stillen, unbewegten Wasser und tut so, als hätte er unser Kajak nicht bemerkt unter dem Blättervorhang der quer liegenden Schwarzerle. Vorsichtig paddeln wir rückwärts zum wenige Meter entfernten Fluss, durch das Gestrüpp der Zweige und die schwimmenden Felder der Seerosen, die unseren Rückzug mit einem schlürfenden Seufzen begleiten, als hätten sie uns gern festgehalten. Fast bedauernd klingt es, aber das ist gewiss Einbildung, das erste Anzeichen für einen drohenden Sonnenstich in dieser heißen Augustwoche.

Ruhig und unerwartet breit ist die Peene, 50 bis 60 Meter meist, nicht selten auch mal 100. Platz genug für die Sonne, ungehindert auf Hirne und Oberschenkel niederzubrennen. In großen Schwingen fließt sie gute 120 Kilometer gemächlich durch flachstmögliches Vorpommern, bis sie im Windschatten Usedoms zum Peenestrom wird, der die Insel vom Festland trennt und weder Fluss noch Meeresarm ist. Eher beides zugleich.

Was aber schon weit drinnen im Land häufig ohne Belang ist. Denn vom Ausfluss aus dem Kummerower See, wo Ehm Welk dereinst seine Heiden ihr Unwesen treiben ließ, weist die Peene auf den letzten drei Vierteln ihres Laufs ein Gefälle von kläglichen 28 Zentimetern auf – kein Wunder, dass bei nachhaltigem Nordost die Ostsee ins Land drängt. Das Brackwasser fließt dann bergauf, und wer nicht gegenhält, treibt zurück.

Schwungvoll kracht das Kanu längsseits in den Gegenhang, dichte Wolken unerwünschter Insekten steigen auf, Laub in Mengen rieselt aus den Bäumen herab. Man darf mit dem Paddeln eben nicht zu früh pausieren auf diesem kurvigen Flüsschen, dessen mitunter störrischer Charakter ihm die Zertifizierung „Wildwasserstufe 1“ einbrachte. So entspannt man das Kanu treiben lassen kann bei einer Fließgeschwindigkeit von vier bis fünf Stundenkilometern, so sehr rächen sich selbst kleine Unaufmerksamkeiten in den schmalen Biegungen. Die quirlige Örtze, der lebendigste Wasserlauf in der niedersächsischen Südheide, will ernst genommen werden.

Kaum 50 Kilometer lang ist der Nebenfluss der Aller, den Hermann Löns „der Heide echtesten Fluss“ nannte, von der historischen Wassermühle in Müden abwärts ist er befahrbar. In unzähligen Windungen mäandert die Örtze, meist kaum breiter als das Kanu lang ist, durch Wiesen, Weiden und kleine Gehölze, und wer bereits hier um seinen Orientierungssinn zu fürchten beginnt, hat das Beste noch vor sich.

Hinter dem Gut Wolthusen, wo ein kleines Wehr zum Umtragen zwingt und dafür mit einem lagunenartigen Badeteich entlohnt, beginnt die Kurvenörtze – ein gelungener Versuch der Natur, aus rund fünf Kilometern Luftlinie einen Wasserweg von locker dreieinhalb Stunden zu machen. Während derer sich niemand wundern darf, desselben Baumes von drei verschiedenen Seiten angesichtig zu werden.

Größer könnten die Gegensätze kaum sein bei Paddeltouren in Norddeutschland als zwischen diesen beiden Flüssen. Die Peene lockt mit kilometerlangen grünen Wänden in sumpfigen Uferbereichen, an denen das Anlanden außerhalb der Wasserrastplätze so gut wie unmöglich ist. Auf der Örtze ist nicht selten Hindernisfahren um herabgefallene Äste angesagt, die den Lauf sprudelnd verengen, auch Steckenbleiben auf umgestürzten Bäumen unter der Wasserlinie darf niemanden wundern. Und hinter Wolthusen ist das muntere Flüsschen ein paar hundert Meter lang so flach, dass Aussteigen und Ziehen angesagt ist.

Die unzähligen Torfstiche hingegen, in früheren Jahrhunderten rechtwinklig zum Fluss ausgehoben und inzwischen zu Naturreservaten ganz eigener Art entwickelt, verleihen der Peene ihren unverwechselbaren Reiz. Stehende Gewässer von der Größe mehrerer Fußballfelder voller Schilf und Wasserpflanzen, mit mannigfaltiger Vogelwelt, deren augenfälligste Vertreter Kranich, Reiher und Seeadler sind. Auch Biber und Fischotter soll es hier geben, wird allenthalben glaubhaft versichert. Verständlich mithin, dass in diesen unter Naturschutz stehenden aquatischen Biotopen das Anlanden verboten ist, wildes Campen selbstverständlich auch.

Letzteres gilt gleichermaßen für die zumeist unter Landschaftsschutz stehenden Ufer der quicklebendigen Örtze – so ziemlich die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Flüssen. Außer dem Spaß auf dem Wasser.