Alle sind neben der Spur

White trash rules! Das gilt auch für Dostojewskis „Schuld und Sühne“, zumindest in Frank Castorfs Bearbeitung für die Volksbühne. Überschreitung und Provokation sehen heute trotzdem anders aus

von CHRISTIANE KÜHL

„Die ganze Stadt ist eine offene Kloake. Ich habe Kopfschmerzen von ihrem Gestank.“ Romanowitsch Raskolnikow speit diesen Satz aus. Voller Ekel, mit der vernichtenden Arroganz, die sein Wesen auszeichnet. Und doch schwingt ein Rest von fast hilfesuchender Ungläubigkeit darin mit. Nun, sollte es Zweifel am Defätismus geben – Bert Neumann macht sie zunichte. Für „Schuld und Sühne“, Frank Castorfs vierte Dostojewski-Adaption hat der Bühnenbildner erneut eine Containerstadt in die Volksbühne gebaut, die es nie deutlicher sagte: Dies ist die Scheiße, in der ihr lebt. Die ihr fresst, in der ihr euch suhlt, die ihr ständig perpetuiert. Links ein Puff und eine Polizeistube, rechts gestapelte Wellblechkästen mit überteuerten Sammelunterkünften und einer Gaststätte.

In einem schier endlosen ersten Bild wird hier Eisbein verschlungen und ausgekotzt, wird mit vollen Händen in Toiletten gegraben. Der Text, der dabei gerülpst und geschrien wird, ist kaum auszumachen. Es geht nicht mehr darum zu verstehen; auch Hauptstadt-Premierenpublikum muss lernen, einfach zu akzeptieren. White trash rules. Jürgen Trittin ist der Erste, der die Vorstellung verlässt. Und bleibt nicht der Letzte.

Mit „Schuld und Sühne“ eröffnete die Volksbühne am Donnerstag die neue Spielzeit. Wie schon der Prater mit einer Pollesch-Produktion startete, die als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen entstand und dort uraufgeführt wurde, ist auch „Schuld und Sühne“ bereits im Mai beim Koproduzenten Wiener Festwochen gezeigt worden. Für das Berliner Publikum hat der Import des eigenen Theaters einen Vorteil: Statt sechseinhalb dauert die Aufführung nur noch fünfeinhalb Stunden.

Den langen Einstieg lässt Castorf sich trotzdem nicht nehmen. Er betreibt seine ganz eigene Zen-Schule, die den Zuschauer durch permanentes Kreischen erst aufmerksam, dann gelangweilt und schließlich leer macht. Dass dort, wo früher gern Kartoffelsalat geschmissen wurde, nun Scheiße gefressen wird – wen kümmert’s. Das ist so egal wie der Mord, den Raskolnikow begeht. Provokation und Überschreitung sehen heute anders aus. Ob sie überhaupt noch möglich sind in einer Welt, die vom postmodernen anything goes in ein postsozialistisches everything must go glitt, den totalen Ausverkauf, ist die Frage, die die Inszenierung stellt.

Dostojewski schrieb die Geschichte des Jurastudenten Raskolnikow 1866 unter einem Titel, der treffender mit „Verbrechen und Strafe“ oder „Überschreitung und Zurechtweisung“ aus dem Russischen zu übersetzen wäre. Der junge Mann ist überzeugt, dass sich die Welt in „gewöhnliche“ und „außergewöhnliche“ Menschen teilen lässt, wobei Erstere nicht mehr wert sind als Läuse. Zweitere, zu denen Raskolnikow sich selbst zählt, haben das Recht, sie zu zerquetschen, wenn es ihnen und damit dem Fortschritt dient. Der hoch intelligente, bettelarme Student ermordet eine Pfandleiherin. Weniger, um an ihr Geld zu kommen, sondern vielmehr als Experiment: Der perfekte Mord soll ihm beweisen, dass er ein Genie ist.

Doch die Beweisführung misslingt. Bald wird er von Fieberträumen geplagt und später von etwas, das er nicht zu besitzen glaubte: einem Gewissen. „Ich habe ein Prinzip ermordet. Aber das Überschreiten habe ich nicht geschafft.“ Er stellt sich der Polizei, man schickt ihn nach Sibirien. Auf Verbrechen folgt Strafe, auch für den Gottlosen.

Frank Castorf hat wenig Interesse an der psychologischen Entwicklung Raskolnikows. Martin Wuttke gibt ihn als einen Aus-der-Reihe-Gefallenen, der in einer Welt von Menschen, die alle neben der Spur sind, lange nicht auffällt. Er ist aggressiv, genusssüchtig und in kurzen Momenten offensichtlich größenwahnsinnig. Das geht unter auf einer Bühne, wo alle wie die Wespen in der Fanta-Flasche nach oben wollen und doch nur immer heftiger gegen das Glas fliegen.

Statt der Psychologie eines Einzelnen wird ein allgemeiner Zustand gezeigt. Der nicht weniger besorgniserregend ist. Vor den Containern, in den Containern und auf den dominanten Videoprojektionen daraus hinaus sind Menschen, die ihre Gesetze selber basteln. Gott ist tot, der Sozialismus ist tot, die Sozialdemokratie vermodert. Wie im übrigen auch Nietzsche und die im Programmheft zitierten Foucault, Benjamin und Heiner Müller. Was bleibt? Ein großartiges Ensemble, das uns die Welt zeigt, wie sie noch einmal zufällig am Amoklauf vorbeischlittert.

Nächste Vorstellungen: 14., 28. und 29. Oktober, 19 Uhr