Baustelle Kirche: Blick in den Turm der evangelischen Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, ein Wahrzeichen Berlins, wohl mit einer schwindenden Bedeutung Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Luthers Kirche im Schatten

Kirchgang An Angeboten fehlt es nicht: Gottesdienste für Biker, Engagement in der Flüchtlingsarbeit. Sogar mit Weihrauch versucht die evangelische Kirche die Menschen an sich zu binden. Ein religiöses Role-Model aber ist sie längst nicht mehr. Die Kirchen Berlins leeren sich

Der Reformator: Porträt von Martin Luther aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren, um 1540 Foto: Abb.: Gemäldegalerie

von Claudius Prößer

Eine Kirche in Berlin, irgendwo außerhalb des S-Bahn-Rings. Die Gemeinde hat zur Andacht geladen. Draußen ist es dunkel und kalt, der Feierabendverkehr rollt über nasses Laub, drinnen ist es warm und still. Kerzen brennen vor dem Altar. Obwohl der Saal nicht groß ist, wirkt er leer, nicht einmal ein Dutzend älterer Leute verteilt sich im Raum. Der Kantor leitet die Andacht. Er liest eine Geschichte vor, in der es um alltägliche Wunder geht, keinen Bibeltext. Die Lieder singt er mit schöner, kräftiger Stimme, das muss er auch, denn mehr als leises Gemurmel kommt nicht von den Bänken zurück. Eine merkwürdige Stimmung stellt sich ein: tröstlich und trostlos zugleich.

Sicher, eine Momentaufnahme. Aber die offiziellen Zahlen bestätigen es: Die evangelische Kirche in Berlin schrumpft dramatisch – unddie verbleibenden Mitglieder sind der Religionsausübung müde. Die EKBO, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, wird ihreStatistik wie üblich zum Reformationstag am 31. Oktober vorlegen, und diesmal werden es erstmals weniger als eine Million Mitglieder sein, in Berlin kaum mehr als 590.000. In der Hauptstadt hat die Kirche in den letzten 20 Jahren 300.000 Menschen verloren, sei es aus demografischen Gründen – jedes Jahr gibt es doppelt so viele Bestattungen wie Taufen –, sei es durch die rund 12.000 Austritte im Jahr.

Heiligabend kommen alle

1517 publiziert der Mönch und Theologe Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel.

1521 kommt es zum end­gültigen Bruch mit Rom, in der Folge breitet sich die Reformation aus.

1539 führt Kurfürst Joachim II. die Reformation in Brandenburg ein. Bis 1918 sind die Landesherren (später die preußischen Könige) auch Oberhaupt der Landeskirche.

1685 werden rund 20.000 Hugenotten aufgenommen. Sie bringen den „reformierten“ Glauben mit, der nicht auf Luther, sondern auf Zwingli und Calvin zurückgeht.

1817 fusioniert Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. Lutheraner und Reformierte zur „unierten Kirche“.

1933 wird die Landeskirche von den braunen „Deutschen Christen“ übernommen, Widerstand formiert sich in der „Bekennenden Kirche“.

1991 endet die erzwungene Spaltung in Ost und West mit zwei Bischöfen und zwei Kirchenparlamenten (Synoden).

2004 kommt ein Zipfel Sachsen hinzu, aus der Fusion entsteht die EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz).

2009 wählt die Synode der EKBO Markus Dröge zum amtierenden Landesbischof.

2017 findet vom 24. bis 28. Mai der Evangelische Kirchentag in Berlin und Wittenberg statt, Motto: „Du siehst mich“.

Es könnte ein Gesundschrumpfen sein – aber die meisten Gottesdienste sind ausgesprochen spärlich besucht. Im Schnitt 33.000 sonntägliche KirchgängerInnen hat die EKBO 2015 gezählt – auf dem gesamten Gebiet der Landeskirche. Welches Potenzial es gäbe, zeigt das mit Abstand beliebteste Fest der Protestanten, Heiligabend. Da drückt plötzlich eine gute halbe Million Menschen die Bänke. Nicht selten erhebt die Pastorin oder der Pastor dann mahnend die Stimme – aber am Sonntag darauf herrscht wieder Leere.

Dabei gibt sich die Kirche Mühe, die Menschen dort abzuholen, wo sie sie vermutet. Es gibt Taizé-Andachten im wohlig-meditativen Stil der französischen Ökumene-Gemeinschaft, es gibt einen jährlichen Gedenkgottesdienst für verunglückte MotorradfahrerInnen, zu dem im Korso geknattert wird. Und für alle, die sich ein bisschen katholisch fühlen, finden „Lutherische Messen“ in der Kreuzberger St.-Jacobi-Kirche statt. Da schreitet man in weißen Gewändern durch die Kirche, es wird gekniet, und zur Abendmahlsfeier wird in guter römischer Tradition das Weihrauchfass geschwenkt.

In solchen Nischen scheint Kirche noch zu funktionieren. Auch nichtreligiöse Angebote wie die vielen Konzerte sind oft gut besucht. Aber das Gros der Gläubigen scheint den Glauben vergessen zu haben. Mit Sicherheit haben die meisten das Engagement in der Gemeinde verlernt. Deswegen hat Ulrike Trautwein ihnen gerade wieder einen Brief geschrieben. Als Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin kommt sie in der Kirchenhierarchie gleich nach Landesbischof Markus Dröge. Der handgeschriebene, faksimilierte „Berliner Brief“ soll daran erinnern, dass es die Kirche noch gibt und sie sich für ihre Schäfchen interessiert. „Eine Reaktion, die ich öfter gehört habe, ist: ‚Klasse, da ist ja gar kein Überweisungsträger drin‘ “, berichtet Trautwein. „Die Leute freuen sich, dass wir uns ohne finanzielle Bitte an sie wenden.“

Allein es fehlt am Glauben

Nein, die Sonntagspredigt zieht offenbar nicht mehr, ganz zu schweigen von der Höllenangst, die noch Martin Luther angetrieben hat

Aber nicht alle EmpfängerInnen freuen sich, und das hat viel mit dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche zu tun. Trautwein betont in ihrem Schreiben die Bedeutung der Arbeit mit Flüchtlingen, was manchem nicht schmeckt. Dabei, so Trautwein, ist „die Bibel ein Buch, das unzählige Fluchtgeschichten erzählt, von Adam und Eva bis Jesus. Wir entdecken gerade wieder neu, dass es gar nicht unbedingt die Normalität ist, irgendwo zu Hause zu sein, und die Bibel sagt das auch.“ Nicht jeden kann sie überzeugen, aber grundsätzlich ist der Rückhalt für diese Arbeit der Kirche unter den Mitgliedern größer als ihre Begeisterung für elementare Glaubensdinge.

Symbolisch verdichtet sich der Einsatz der Institution und ihrer Mitglieder in der „Flüchtlingskirche Berlin“. Seit einem Jahr werden in St. Simeon in der Kreuzberger Wassertorstraße Angebote für geflüchtete Menschen gemacht, von der Asyl-Beratung über Deutschkurse bis zum „International Dinner“, bei dem sich BesucherInnen unterschiedlicher Herkunft über gemeinsames Kochen und Essen kennenlernen können. „An vollen Tagen kommen 60 bis 70 Leute zu uns, manchmal mehr“, weiß Anke Dietrich vom Diakonischen Werk, dem sozialen Träger der EKBO, die die „Flüchtlingskirche“ leitet. Gleichzeitig wirkten an die 50 Ehrenamtliche am Projekt mit, zum Teil aus dem Verein „Asyl in der Kirche“, aber auch Freiwillige aus der Gemeinde und der ganzen Stadt. Aber ist es nicht für muslimische Flüchtlinge problematisch, sich Hilfe in einer Kirche holen zu müssen? „Das haben wir uns anfangs auch gefragt“, so Dietrich, „aber es hat sich in Bezug auf die Beratung nicht bestätigt. Da geht es ja um Antworten auf existenzielle Fragen, fernab einer spirituellen Dimension.“

St. Simeon ist auch ein Symbol für die fortschreitende Aushöhlung der Kirche: 2013 wurde die Gemeinde mit der Melanchthon-Gemeinde an der Admiralbrücke und St. Jakobi an der Oranienstraße (die mit dem Weihrauch) aus Rationalisierungsgründen fusioniert: Die Zahl der Gemeindemitglieder war in anderthalb Jahrzehnten von 3.000 auf 1.700 gefallen. Die diakonische, also soziale Arbeit sollte Schwerpunktprofil von St. Simeon werden, in der Flüchtlingsarbeit fand sie dann ihre Bestimmung.

Alles außer Mission

Eines wird in der Flüchtlingskirche definitiv nicht getan: missioniert. Im Gegensatz zu den Evangelikalen, freikirchlichen Gruppen jenseits der EKBO, hält sich die Landeskirche hier völlig zurück. Dabei prangt von ihrem Verwaltungsgebäude, dem Konsistorium in der Georgenkirchstraße, in goldenen Lettern der Bibelvers „Gehet hin und lehret alle Heiden und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Der „Missionbefehl“ aus dem Matthäusevangelium war jahrhundertelang Richtschnur der Protestanten, aber damit ist Schluss: „Wir haben eine Missionsgeschichte im Nacken, die mit dem Kolonialismus verknüpft ist“, erklärt Generalsuperintendentin Trautwein, „da gibt es natürlich große Scheu, mit diesem Verständnis in einen Topf geworfen zu werden.“

Laut eigener Statistik hatte die EKBO am 31. 10. 2015 in Berlin 597.898 Mitglieder in 1.276 Kirchengemeinden. Ende 1997 waren es noch 896.000. Zum Vergleich: Römisch-katholisch sind derzeit rund 325.000 BerlinerInnen, muslimisch (grob geschätzt, da es keine offizielle Statistik gibt) rund 300.000.

2015 wurden in der EKBO rund 6.000 Personen getauft und rund 12.000 bestattet. Auch die Austritte beliefen sich wie in den Jahren zuvor auf rund 12.000.

Am 1. 1. 2016 hatte die EKBO 8.141 entgeltlich Beschäftigte, davon 927 „Theologen im aktiven Dienst“.

Der Haushalt der EKBO beläuft sich auf ca. 400 Millionen Euro, etwa die Hälfte davon wird über die Kirchensteuer eingenommen.

In zunächst 20 Kirchen und Gemeinderäumen wird es demnächst freies WLAN geben – unter dem Label „godspot“. (clp)

Das selbst auferlegte Missionsverbot geht einher mit dem immer sichtbareren Kontrast zwischen der christlichen, zumal protestantischen, und der muslimischen Frömmigkeit. Volle Moscheen, leere Kirchen – missioniert die Kirche wenigstens in ihrem Milieu?

Antje Zimmermann koordiniert die „Kircheneintrittsstellen“ der EKBO. „Eigentlich ist jede Gemeinde eine Eintrittsstelle“, sagt sie, „aber manchmal muss es schnell gehen, weil jemand Taufpate werden will“ – oder die Anstellung bei einem kirchlichen Arbeitgeber es voraussetzt. Zimmermann vermittelt die Suchenden dann an Gesprächspartner, Glaubens- und Taufkurse. 80 Prozent derer, die sich melden, sind Rückkehrer, ihre Austrittsgründe sind laut Zimmermann ganz unterschiedlich. Oft würden finanzielle Erwägungen genannt. „Aber auch die Abnabelung vom eigenen Elternhaus oder ganz persönlicher Ärger über einen Pfarrer werden immer wieder genannt.“ In Scharen kommen sie jedenfalls nicht: Zwei bis vier Anfragen kann die Kirchenmitarbeiterin pro Tag weiterleiten.

Nein, die Sonntagspredigt zieht offenbar nicht mehr, ganz zu schweigen von der Höllenangst, die Martin Luther antrieb. Bleibt als Visitenkarte die – altmodisch ausgedrückt – gute Tat, das gesellschaftliche Engagement. In den Worten von Ulrike Trautwein: „Leute, die gar nicht wissen, wozu sie Glauben überhaupt brauchen, dazu zu nötigen, halte ich nicht für das Richtige. Aber wenn wir mit unserer Arbeit glaubwürdig sind, fragt der eine oder die andere doch mal, was es damit auf sich hat. Das kann dann auch überzeugen.“