Alles, was Recht ist

Kunst Stine Marie Jacobsens kluge Interventionen

Was, wenn es wirklich so wäre, wie es da eingeritzt auf tafelgrünem Linoleum steht? „Einem Asylbewerber ist die Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben, damit er seine Zeit nicht sinnlos im Heim verschwenden muss – § 61 AsylG Erwerbstätigkeit Abs. 1“ oder: „Auch der Asylantrag eines minderjährigen Flüchtlings kann ohne vormundschaftliche Vertretung beim Bundesamt gestellt werden, da dies dem Antragsteller die Suche nach einer tatsächlichen Hilfsperson erleichtert – § 14 AsylG Antragstellung Abs. 2 Nr. 3.“

Der deutschen Gesetzesrealität entsprechen die Sätze, die Stine Marie Jacobsen in der Galerie Wedding aufgehängt hat, nicht. Sie sind die Ergebnisse der Workshopreihe „Law Shifters“, in der die Künstlerin Geflüchtete und Berliner Jugendliche über Rechte und Migration diskutieren ließ. Und Gesetze umschreiben: Die neuen Formulierungen, die so entstanden – mal sind sie ernsthafter, mal naiver, meist sowohl als auch –, erzählen zwischen den Zeilen viel über ihre Verfasser, von ihren persönlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten. Dass sie dennoch wie Gesetzesvorschläge klingen, liegt daran, dass Jacobsen die Ideen von einem Rechtsanwalt ins Juristendeutsch übersetzen ließ, bevor die Jugendlichen sie akkurat bis krakelig von Hand ins Linoleum meißelten.

Auch im Stadtraum kann man die Law-Shifters-Paragrafen derzeit lesen. Auf blassrote Poster gedruckt hängen sie in Werbevitrinen an U-Bahnhöfen und Straßenecken.

Für Jacobsens künstlerische Praxis ist „Law Shifters“ typisch. Jacobsen, geboren 1977 im dänischen Sønderborg, beschäftigt sich bevorzugt mit Sprache und mit den Machtverhältnissen, die diese erzeugen. Grammatik und sprachliche Strukturen werden bei ihr zur Metapher, schließlich muss sich das Vokabular denen genauso anpassen wie Individuen den Gesetzen und gesellschaftlichen Regeln. Das Verb „sich beugen“ passe zu beidem, sagt Jacobsen: „Man muss sich beugen, wenn man in ein anderes Land kommt und ein neues System und eine neue Sprache lernen muss.“

Jacobsen lässt lieber biegen. Ihre Projekte sind partizipativ und dabei ebenso politisch wie edukativ. Für die Jugendlichen geht es in den Workshops um aktive Auseinandersetzung mit Demokratie; den Betrachtern wiederum ermöglichen die Ergebnisse eigene Reflexionen über juristische wie politische Prozesse.

Ähnlich ist es beim zweiten Projekt, das in der Weddinger Ausstellung präsentiert wird. „German for Newcomers“, ging „Law Shifters“ voraus, wurde wie dieses in Zusammenarbeit mit dem Straßensozialarbeit-Verein Gangway ermöglicht. Jacobsen hatte einen Sprachkurs für Geflüchtete, Expats und Zugewanderte veranstaltet, aber nicht als Lehrer-Schüler-Situation, sondern als gleichberechtigten, selbstbestimmten Dialog. Im Unterricht wurden Erlebnisse und Beobachtungen aus dem Alltag besprochen, neue Begriffe, Lieblingswörter, Hürden, Gegenvorschläge, Redewendungen und Eselsbrücken. Vor allem Letztere, denn die stehen für Jacobsen programmatisch für ihren Ansatz: „Eselsbrücken sind Autonomie: Du musst dir selbst erklären, was etwas bedeutet, wirst selbst zur Lehrerin.“

Beispielsätze hat sie in einem gleichnamigen, sehr lustigen Buch versammelt, das zur Ausstellungseröffnung vorgestellt wurde. Fast schon so absurd komisch, dass man den ernsten Hintergrund vergessen könnte, sind die selbst gewählten Szenen, die die Teilnehmer im Film dazu spielen.

Mit beiden Projekten soll es in Zukunft weitergehen. Zwei weitere Workshops zu „Law Shifters“ finden während der Laufzeit statt, zur Finissage wird die dazugehörige Publikation ­präsentiert, die sowohl Kunstkatalog, Dokumentation wie Unterrichtsmaterial ist.

Beate Scheder

German for Newcomers | Law Shifters, Galerie Wedding, bis 12. 11.