Zukunftsmodell Genossenschaft

Genossenschaften machen es möglich, zugleich nachhaltig zu wirtschaften und sozial verantwortlich zu handeln. In Deutschland tragen besonders die Energiegenossenschaften zu einer Renaissance des Genossenschaftswesens bei. Andere Genossenschaftsformen könnten mit mehr Unterstützungsstrukturen nachziehen

von Burghard Flieger

reditgenossenschaften, ländliche und gewerbliche Genossenschaften sowie Wohnungsgenossenschaften stabilisieren regionale Wirtschaftskreisläufe und sorgen für lokale Beschäftigung.“ So beschreibt der UN-Generalsekretär Ban-Ki Moon die Wichtigkeit der Unternehmensform Genossenschaft für eine humanere Wirtschaft.

Kleine, neue Genossenschaften in Deutschland können sich so in einen „bedeutenden Gesamtzusammenhang“ stellen. Hierzulande werden in 7.500 genossenschaftlichen Unternehmen mehr als 800.000 Menschen beschäftigt. Jede(r) vierte Deutsche (20 Millionen Menschen) ist Mitglied in einer Genossenschaft. Große genossenschaftliche Unternehmen wie die taz Berlin verzeichnen mehrere tausend Mitglieder. Daneben gibt es viele kleinere Genossenschaften mit weniger Mitgliedern. Alle zusammen stehen für nachhaltiges Wirtschaften und sozial verantwortliches Handeln.

Genossenschaften mit ihren traditionellen Wurzeln sind etwas Besonderes, dem sich in Rückblicken und bei Jubiläumsfeiern durch ehrfurchtsvolle Reden hervorragend Rechnung tragen lässt. Können sie aber auch Relevanz und Vorbild für eine andere Form der Ökonomie bekommen? Bevor solche Fragen diskutiert werden, stellt sich erst einmal die Frage: „Was ist eine Genossenschaft?“ Hinsichtlich der Genossenschaftlichkeit von Unternehmen gilt es, deutlich zwischen der rechtlichen Frage und der sozialen Organisation zu unterscheiden. Nicht jede eingetragene Genossenschaft ist auch von ihrer sozialen Ausgestaltung her genossenschaftlich. Umgekehrt gibt es zahlreiche Unternehmen, die als Genossenschaften zu bezeichnen sind, auch wenn sie die eG als Rechtsform nicht gewählt haben.

Grundsätzlich ist es sinnvoll, das Thema Genossenschaftlichkeit anhand der vier wesentlichen Charakteristika zu reflektieren: dem Förder-, dem Identitäts-, dem Demokratie- und dem Solidaritätsprinzip.

Der förderwirtschaftliche Auftrag wurde für eingetragene Genossenschaften (eG) sogar im Gesetz verankert. Er besagt: Nicht die Verwertung von Kapital und das Erwirtschaften von Gewinn soll Hauptzweck einer Genossenschaft sein, sondern die Förderung der Mitglieder in dem Geschäftsfeld, in dem sie angesiedelt ist.

Das empirisch am leichtesten überprüfbare genossenschaftliche Prinzip und somit das eindeutigste Erkennungsmerkmal stellt das Identitätsprinzip dar. Zwei Rollen, die sich sonst am Markt gegenüberstehen, fallen in der Personengruppe der Genossenschaftler zusammen. Bei der Wohnungsbaugenossenschaft sind es Mieter und Vermieter, in der Konsumgenossenschaft Verbraucher und Händler, in der Produktivgenossenschaft Kapitaleigner und Beschäftigte.

Mit dem dritten Prinzip, dem Demokratieprinzip „Ein Mensch, eine Stimme“, werden Genossenschaften am stärksten verbunden. Unabhängig von der Anzahl der eingebrachten Kapitalanteile, der Erfahrungen oder der Position im Betrieb verfügt jeder in der Generalversammlung über formal das gleiche Stimmrecht.

Beim Solidaritätsprinzip geht es um die Ausprägung genossenschaftsspezifischer Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen. Durch die Betonung und konsequente Anwendung bestimmter Werte und der damit verbundenen Verhaltensweisen kann in genossenschaftlichen Unternehmen höhere Stabilität erreicht werden.

Die Vorteile der Rechtsform

Die genossenschaftliche Rechtsform weist zwei Vorteile auf, die sie für Neugründungen besonders interessant macht. Zum einen ist die Genossenschaft immer sinnvoll, wenn mit vielen Menschen gleichberechtigt, haftungsbegrenzt ein wirtschaftliches Anliegen verfolgt wird. Über keine andere Unternehmensform ist der Ein- und Ausstieg von Mitgliedern so unkompliziert zu organisieren, so dass auch mit kleinen Eigenkapitalbeträgen in Form von Genossenschaftsanteilen die Finanzierung von Projekten vonstatten gehen kann. Hinzu kommt, dass nur die Genossenschaft von der sogenannten Prospektpflicht ausgenommen ist. Bei allen anderen Formen einer finanziellen Beteiligung von mehr als zwanzig Personen oder mehr als 100.000 Euro muss ein Prospekt erstellt werden, der vom Bundesamt für Finanzwesen (Bafin) zu prüfen und zu genehmigen ist. Bei Projekten kleiner und mittlerer Größe, die wirtschaftlich eng kalkuliert sind, sprengen die Kosten dafür schnell die ökonomischen Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements.

Neue Tätigkeitsfelder

Gegenwärtig lassen sich sechs Geschäftsfelder benennen, bei denen verstärkt genossenschaftliche Neugründungen zu beobachten sind.

1. Vorreiter sind eindeutig die Energiegenossenschaften. Rund sechshundert wurden in den letzten sechs Jahren gegründet. Ein Schwerpunkt mit 90 Prozent dieser Neugründungen liegt bei Genossenschaften, die Solaranlagen installieren zwecks der Produktion erneuerbarer Energien.

2. Bereits vorher gab es eine auffällige Anzahl von Kooperationen und Zusammenschlüssen im Gesundheitswesen. Schwerpunkte sind hier eindeutig Ärztegenossenschaften. Über 10.000 Ärzte haben sich seit der Jahrtausendwende in Ärztegenossenschaften zusammengeschlossen. Vereinzelt werden Genossenschaftsmodelle auch im Bereich der integrierten Versorgung und für medizinische Versorgungszentren aufgegriffen.

3. Ländliche Gebiete entwickeln sich zunehmend zu Betätigungsfeldern für Genossenschaften. Dorfladengenossenschaften stehen nach den Energiegenossenschaften an zweiter Stelle der Neugründungen. Über sie können in vielen Fällen Einkaufsmöglichkeiten für ältere Menschen in kleinen Gemeinden aufrechterhalten werden.

4. Als Zusammenschlüsse von KMU (kleinen und mittleren Unternehmen) kann aktuell die Gründung von IT-Genossenschaften und gewerkeübergreifenden genossenschaftlichen Kooperationen im Handwerk beobachtet werden. Das hohe Autonomiestreben vieler Handwerker und Selbstständiger setzt aber den hier sinnvollen Kooperationen enge Grenzen.

5. Zahlreiche Defizite im sozialen Bereich erzwingen die genossenschaftliche Selbsthilfe in Form von Sozialgenossenschaften. Sie reichen von Arbeitslosengenossenschaften im Bereich haushaltsnaher Dienstleistungen über Assistenzgenossenschaften von Behinderten bis hin zu Seniorengenossenschaften.

6. Zuletzt kann noch auf die neuen Wohnungsbaugenossenschaften verwiesen werden. Sie weisen unter den Neugründungen die längste Tradition auf. Generationsübergreifendes Wohnen, Ökosiedlungen, Seniorenwohnungsbaugenossenschaften und andere leitbildgetragene Wohnformen bestimmen hier das Bild.

Unterstützende Strukturen

Zu kaum einer anderen Unternehmensform existiert so wenig Know-how bei den IHKs, Handwerkskammern und Unternehmensberatern wie über die Genossenschaft. In den meisten Gründungsleitfäden kommt sie nicht vor. Die in diesem Bereich wichtigen genossenschaftlichen Prüfungsverbände können die erforderliche Unterstützung nicht ausreichend abdecken. Entsprechend kommt es vor allem dort verstärkt zu Neugründungen, wo sich Berater oder Organisationen die Verbreitung der Genossenschaftsidee auf ihre Fahnen geschrieben haben. Im Wohnbereich gibt es dies schon seit Längerem. Der Arbeitskreis Integriertes Wohnen in Leipzig, die Stattbau GmbH in Hamburg oder die Wohnbundberatung in Bochum sind Beispiele hierfür.

In anderen Sektoren sieht es enger aus. Für Dorfladengenossenschaften hat das Dorfladen-Netzwerk eine eigenständige Unterstützungsstruktur gebildet. Bei Produktiv-, Stadtteil-, Arbeitslosen- und Sozialgenossenschaften ist seit Längerem die innova eG aktiv, eine Entwicklungspartnerschaft für Selbsthilfegenossenschaften mit Regionalbüros in Dortmund und Leipzig. Auch der Boom im Bereich Energiegenossenschaften findet seine Ergänzung in Einrichtungen, die das notwendige Gründungswissen zur Verfügung stellen – wie die Agrokraft in Bayern und das Netzwerk „Energiewende jetzt“.

Letzteres ist eine Besonderheit. Um Energiegenossenschaften zu gründen, wird den handelnden Akteuren, sogenannten Initiatoren oder Promotoren, das erforderliche Handwerkszeug vermittelt. Sie können sich dies in einer sehr innovativen Weiterbildung „Projektentwickler/innen für Energiegenossenschaften“ aneignen. Über diese werden Bürgerinnen und Bürger befähigt, Verantwortung für den Klimaschutz zu übernehmen und ihre Energieversorgung selbst in die Hand zu nehmen. Sie werden also in die Lage versetzt, Solargenossenschaften oder andere Formen von Energiegenossenschaften systematisch und professionell angeleitet auf den Weg zu bringen. Vergleichbare Unterstützungsstrukturen für andere Sektoren könnten helfen, die Vielfalt genossenschaftlicher Ansätze auf erheblich breitere Füße zu stellen und sie verstärkt als Alternative zu herkömmliche Unternehmensstrukturen zu etablieren.

Burghard Flieger ist seit 2004 Dozent an der Hochschule München im Rahmen des Masterstudiengangs Gemeinwesenökonomie. Er ist Vorstand der Solar-Bürger-Genossenschaft, die Bürgerkraftwerke entwickelt und betreibt.