zwischen den rillen: Befreiung im Mausoleum
Stian Westerhus: „Amputation“ (House of Mythology)
Ein Unglück im Familienkreis trifft alle Beteiligten meist unvorbereitet. Der norwegische Gitarrist Stian Westerhus erlebte die Wucht eines solchen Desasters. „Das war die schwierigste Zeit meines Lebens“, erzählt er im Gespräch, Details nennt er nicht. „Als ich dachte, jetzt kann nichts Schlimmeres mehr passieren, ist alles explodiert.“
Rettender Strohhalm des heute 37-Jährigen war die Entdeckung der eigenen Stimme als Transmitter seiner Musik. Er komponierte sehr düstere Stücke, aus denen schließlich sein neues Soloalbum „Amputation“ entstand. Die Aufnahmesession dauerte gerade zwei Tage, Westerhus beschreibt sie dennoch als Katharsis.
Den Stücken ist kein Beat eigen, der als Halt zu orten wäre, sie hängen in der Luft wie die ruhelose Seele, die per Gitarre und Gesang irrlichtert. Das Instrumentalspiel und die Intonation von Texten entweichen dem Körper des Musikers, und so entsteht der Eindruck, Westerhus füge seiner Gitarre die schwingenden Stimmbänder als weitere Saite hinzu.
Die Physis der Klangerzeugung ist für den Musiker elementar. „Ich habe festgestellt, dass es nicht ums Spielen an sich geht, sondern darum, wie ich Sound kreiere und er dann in kürzester Zeit durch meine Hände läuft. Wie sich die Unmittelbarkeit des Körpers auf Electronics und Verstärker überträgt und wieder zurückwirkt auf mein Gitarrenspiel, ist entscheidender Faktor meiner Improvisation. Obendrüber zu singen, fällt schwer. Gesang verändert die Körperlichkeit des Spiels und umgekehrt.“
Ringen nach Trost
Westerhus, der neben dem anhaltend großartigen Innovatoren Eivind Aarset zu den wichtigsten zeitgenössischen Gitarristen Norwegens zählt, hat bei gemeinsamen Auftritten mit der Sängerin Sidsel Endresen die freie Improvisation lieben gelernt. Nun singt er selbst mit hoher, zerbrechlich klingender Stimme. Sie verströmt das Begehren, sich der eigenen Lebendigkeit zu vergewissern, sie fleht um Genesung von Verwundungen. Manche Textzeilen wie „I’ve been searching for my higher ground“ sind herauszuhören, andere klingen wie ferne Formeln beim Ringen nach Trost.
Der Gesang schwebt in bruitistischen Klangkathedralen aus Feedback, Salven an Störgeräuschen und düsterem Donnergrollen, Westerhus kostet die Bandbreite seines lärmenden Bestecks genüsslich, aber nie brutal aus. Fast versöhnlich geleiten der einfache Puls einer Drum Machine und das Summen der Hummeln in einem Busch, das Westerhus fürs Album im Garten seiner Kindheit aufnahm, vom Titelstück zum nächsten Song. In „Sinking Ships“ und „Amputation“ bearbeitet er die Gitarre mit einem Cellobogen. Das klingt wie ein Cello und ein dysfunktionales Streicherensemble, der lange Nachhall verstärkt das unheimliche Schaudern.
Diese Stücke sind nicht nur reich an dunklen Abgründen, Westerhus hat sie auch in dem wohl bizarrsten Raum aufgenommen, den Oslo zu bieten hat. Der Künstler Emanuel Vigeland (1875–1948) hatte sein eigenes Mausoleum zu Lebzeiten erbauen lassen, selbst gestaltet und verfügt, er solle nach seinem Tod nur spärlich beleuchtet werden. In dem hohen Raum schuf er auf 800 Quadrametern den Freskenzyklus „Vita“, mit hunderten nackten Leibern kopulierender Paare, gebärender Frauen und Todesdarstellungen. Die „Tomba Emmanuele“ ist beliebt bei Black-Metal- und Noise-Musikern, regelmäßig finden dort auch Konzerte statt.
Mit dem Nachhall atmen die Einspielungen von Westerhus auch die aufgeladene Atmosphäre des Raums aus Fleischeslust und fataler Vergänglichkeit. Welchen Kraftakt er mit sich selbst ausgefochten hat, lässt sich nur erahnen, bei aller Düsternis verströmen die vierzig Minuten des Albums auch ein Gefühl von Befreiung. Die Abtrennung von wahr geglaubten Überzeugungen, die er im Titelstück besingt, ist eben nur in der Musik möglich.
Franziska Buhre
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