LeserInnenbriefe
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Zu hohe Erwartung an WikiLeaks

betr.: „Wikileaks hat uns für dumm verkauft“, taz vom 5. 10. 16

WikiLeaks erhebt – laut dessen eigener „About“-Seite – keinen journalistischen Anspruch. Es ist eine „Bibliothek“ und „Multimediaorganisation“, deren Mitarbeiter die eingereichten Dokumente analysieren. Dort steht nirgends, dass WikiLeaks neutral sei. Oder die Mitarbeiter keine eigene Meinung hätten. Auch sehe ich nirgends eine „Überparteilichkeitserklärung“ oder ein Siegel der UN. Deshalb muss man immer damit rechnen, dass WikiLeaks eingereichte Dokumente auch zum Selbstzweck nutzt. So wie man von Zeitungen und Verlagen erwarten kann, dass bestimmte Nachrichten gerne zu bestimmten Zeitpunkten veröffentlicht werden, weil es opportun ist (lies: weil es die Auflage steigert oder weil es dem Inhaber der Verlages passt).

Ihr Autor Ali Çelikkan hat vielleicht eine zu hohe Erwartungshaltung an WikiLeaks. Er sieht in WikiLeaks anscheinend ein journalistisches Werkzeug, vom dem man eine Bringschuld hinsichtlich der schnellen Lieferung fehlerfreier Nachrichten fordern kann. WikiLeaks muss zudem von Spenden leben. Und die fließen nur, wenn WikiLeaks und Assange die Werbetrommeln rühren. Es ist allemal besser, ein „kaputtes WikiLeaks“ zu haben als eines, wo irgendwann auf der Webseite ein „Diese Domain ist zu verkaufen“ prangt. Udo Siebrasse,Gelsenkirchen

Dekadente Fehlentwicklung

betr.: „Die Grünen verwalten nur noch das Bestehende“, taz vom 5. 10. 16

Vielleicht sollten wir Linken die taz mehr zur Auseinandersetzung mit der fast dekadenten Fehlentwicklung grüner Politik nutzen. Ich stimme mit den meisten Positionen von Robert Zion, der die Grünen verlassen hat, überein. Insbesondere die zum alten Mann in Baden-Württemberg , den ich im Juni 2015 in Mainz erleben durfte, als er die Kreativität der Autoindustrie im Ländle so lobte. Aber auch Robert Habeck, den ich als (letzten?) Hoffnungsträger für Veränderung in der grünen Spitze ansehe, äußerte: Eigentlich haben wir ein Problem mit der Autoindustrie, aber zurzeit lassen sich hier keine Mehrheiten gewinnen.

In der Autoindustrie finden immer weniger Menschen ihren Job, wenige überdurchschnittlich bezahlte und gewerkschaftlich gut organisierte Mitarbeiter überwachen fast nur noch Roboter. Es traut sich trotz Betrügereien und Erkenntnissen, wie es umweltfreundlicher geht, kein Politiker an sie heran: Sie sind zu groß , um verändern zu können, und zu mächtig, um sie stillzulegen, was eigentlich anstünde.

Ich sehe das Hauptproblem in der Orientierung darüber, in welcher gesellschaftlichen Phase wir uns zurzeit befinden. Die Globalisierung bedeutet für mich die reaktionäre Kehrseite der Hochzeit des Kapitalismus, der immerhin neben vielen Erfindungen und höherer Produktivität ja auch demokratische Spielregeln und Bildung und Anteil an höherem Wohlstand für breitere Bevölkerungsteile hervorgebracht hat. In der neuen Übergangszeit heute spaltet sich die Gesellschaft in ein von der „Demokratie“ (berechtigt!) nur noch enttäuschtes Lumpenproletariat und wenige Vermögende samt Helfershelfern. Die soziale Basis für demokratische Rechte geht verloren. Wer die sich verändernden ökonomischen Grundlagen eines Systems verleugnet, landet schließlich bei Kretschmann und Co.

Dietmar Rauter, Kronshagen

Zu spät für eine Intervention

betr.: „No proper understanding“, taz vom 28. 9. 16

Westliche Interventionspolitik soll „das blutige Chaos in zwei Regionen nicht nur begünstigt, sondern entscheidend mit herbeigeführt“ haben. Ich halte das für eine unzutreffende Verkürzung, auch weil Irak und Libyen hinsichtlich Vorgeschichte, Genese der Militärintervention sowie nachfolgender Politik nicht vergleichbar sind. Beim Irakkrieg ergibt es zudem Sinn, die Militär­intervention einschließlich der Beendigung des Bath-Regimes und den Kampf gegen den Terror in der nachfolgenden Besatzungszeit auseinanderzuhalten. Denn die meisten Toten gab es nicht während des 6 Wochen dauernden Krieges gegen Saddam Hussein, sondern in den Jahren danach.

Die Fehler wurden mit der Besatzungspolitik der Bush-Administration gemacht. Nach der Einnahme von Bagdad hat man die irakische Armee einfach aufgelöst und deren Soldaten und Offiziere in die Perspektivlosigkeit entlassen. So schuf man den Nährboden und den Resonanzraum für Terrorgruppen, die den Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten für sich nutzten, um Chaos zu erzeugen.

Nicht die (völkerrechtswidrige) Invasion selbst war das eigentlich Verwerfliche, sondern die Ahnungslosigkeit und Arroganz, mit der man ein erobertes Land verwalten wollte. Die Ausgangslage in Libyen unterscheidet sich deutlich. Hier hat der Westen lange Zeit gezögert, überhaupt einzugreifen. Erst als sich abzeichnete, dass die Rebellion gegen Gaddafi eventuell scheitert oder in eine Pattsituation mündet, mit schlimmsten Folgen für die Zivilbevölkerung, entschloss man sich in Washington und Paris zum Eingreifen mit UN-Mandat und das praktisch gegen die eigenen Interessen. Denn Gaddafi gewährleistete die Erdölexporte Libyens in den Westen und hielt Europa die Flüchtlinge vom Leib. Trotz des ausbrechenden Chaos nach dem Sturz Gaddafis, wurde immerhin verhindert, dass ein Diktator seine eigene Bevölkerung niedermetzelt und ausbombt, so wie Assad in Syrien. Hier haben die USA und Europa über Jahre hinweg zugesehen, wie aus der Rebellion gegen eine Diktatur ein blutiger Krieg mit vielen Fronten und Akteuren wurde. Jetzt, wo die direkte Konfrontation mit Russland droht, ist es zu spät für eine Intervention, die bisher aus Furcht vor Fehlern vermieden wurde. Hartmut Graf,Hamburg