Schlafbrille für’s erste Stück

KONZEPTLASTIG Das Konzert „Fremde Orte“ in der Reihe „Fluktuation 09“ im Radialsystem befremdete durch etwas zu viele außermusikalische Reize

Nette junge Menschen stehen im Foyer des Radialsystems und verteilen weiße Kittel an die Hereinkommenden. Eine Schlafbrille gibt es auch. „Für das erste Stück“, wird freundlich mitgeteilt.

Der Saal ist kahl, keine Bestuhlung, vereinzelt liegen Matten umher. Die bekittelte Zuhörerschaft kauert auf dem Boden und den Stufen und mutet in dem diffusen Licht an wie die versammelte Anhängerschaft einer Sekte oder die Statisterie eines Science-Fiction-Films.

Als die StreicherInnen des Ensembles Kaleidoskop eintreten, langsam in ihren durchsichtigen blauen Overalls zwischen den Zuhörern einherschreitend, ist es in der Tat so, als sei gerade ein Raumschiff gelandet und habe diese Wesen mit den sonderbar geschwungenen Holzartefakten in den Händen in unserer Mitte abgesetzt. Perfekt chorisch sprechend, befehlen die Wesen, man möge die Schlafbrille anlegen.

Das erste Stück, „Passenger“ von der jungen irischen Komponistin Jennifer Walshe, deutet tönend den Verlauf einer Reise an und bezieht seinen Reiz unter anderem daraus, dass es den Streichinstrumenten Töne entlockt, die man nicht erwarten würde. Es mit zwangsgeschlossenen Augen zu rezipieren, ist daher nicht ohne Weiteres durchführbar, denn mit Fortschreiten des Stückes wächst zusehends das Bedürfnis nach optischen Reizen und die Neugier.

Als ich mich unauffällig der Schlafbrille entledige, um festzustellen, auf welche Weise die nächststehende Geigerin ihrem Instrument einen seltsam hauchenden Ton entlockt, sehe ich, dass sie weit davon entfernt ist, ins Schallloch zu blasen, sondern den Bogen ohne Ton über die Saiten führt. Sofort wird das Hauchen von einer angenehmen akustischen Empfindung zu einer unangenehmen.

Auch vom außermusikalischen Reiz der eigens herabgelassenen, von Helfern über unseren Köpfen hin- und hergezogenen Decke fühlt man sich dann durchaus überfordert, die Iannis Xenakis’ Stück „Aroura“ ergänzt, ein in sich selbst mächtiges Klangereignis, für das die Streicher sich in der Saalmitte zu einem scheinbar unsortierten Klumpen zusammenfinden.

Als Begleitung für Claude Viviers „Zipangu“, das ganz zum Schluss gegeben wird, wirkt die bewegte Decke weniger aufdringlich, doch da ist einem ohnehin schon vieles egal. Zwischen den „fremden Orten“ der zeitgenössischen Stücke wird Joseph Haydns Sinfonie Nr. 64 gegeben, die einzelnen Sätze zwischen die modernen Kompositionen der nachgeborenen KollegInnen gesetzt. Das hat tatsächlich immer wieder etwas von „nach Hause kommen“, gleichzeitig aber auch etwas konzeptionell recht Manieriertes.

Ein Eindruck, der sich durchaus als Gesamteindruck formulieren lässt. Schon schön, wenn sich jemand mal traut, die Musik aus dem tradierten Aufführungsrahmen herauszunehmen. Aber dieser Abend lässt erkennen, dass es nicht so leicht ist, neue Rezeptionsansätze zu entwickeln, ohne vor lauter eigenem Kunstwollen Gefahr zu laufen, die Musik zu übertönen.

KATHARINA GRANZIN