Ein Weckruf für die verfeindeten Brüder

Das Erdbeben in Kaschmir könnte eine Chance zu grenzüberschreitender Kooperation zwischen Indien und Pakistan liefern

DELHI taz ■ Das Epizentrum des Erdbebens liegt nur einige dutzend Kilometer von der Waffenstillstandslinie entfernt, welche die beiden Teile Kaschmir voneinander trennt. Es erschütterte eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt. Gleichzeitig könnte das Beben aber auch Indien und Pakistan zueinander zwingen.

Zunächst hat die regionale Aufrüstung in der Katastrophe unmittelbare Vorteile. Beide Armeen konnten rasch mit Hilfsoperationen beginnen, so waren die Armeebestände an Nahrungsmitteln, Zelten und Medikamenten in diesen abgelegenen Gebieten rasch verfügbar. Diese Hilfe leisteten die Militärs trotz der Opfer in den eigenen Reihen: Rund 300 Soldaten fielen auf beiden Seiten dem Beben zum Opfer.

Militärische Geheimhaltung und die politische Sensibilität der Region haben aber auch dazu beigetragen, dass zunächst keines der Länder um ausländische Hilfe nachgesucht hatte. Dies änderte sich zumindest für Pakistan erst im Verlauf des Wochenendes, als das Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher hervortrat. Die Frage ist nur, in welchem Maß ausländische Hilfeteams in den Grenzregion zum Einsatz kommen.

Auch Indien hat seinerseits seinem Nachbarn Hilfe angeboten. Noch am Samstag kam es zu einem Informationsaustausch über die „Hotline“ zwischen den beiden Armeestäben, und an mehreren Kontrollposten entlang der Waffenstillstandslinie gab es so genannte „Flag Meetings“, wo sich die lokalen Kommandanten trafen, um die Situation in ihren Abschnitten zu besprechen. Militärsprecher in Delhi wiesen aber darauf hin, dass Einsätze von Indien aus, ob militärische oder zivile, politische Entscheidungen seien. Die Militärs ließen aber durchblicken, dass sie sich logistisch anbieten würden.

Die Waffenstillstandslinie spiegelt in etwa noch den Status quo am Ende des Kriegs von 1971. Er folgt keiner geografischen Logik. Einzelne Täler sind auf dem Landweg vom indischen Teil Kaschmirs aus einfacher zu erreichen als aus Pakistan – umso mehr als das Beben die dortigen Verkehrswege stärker zerstörte. Auch Militärkonvois können seit der kürzlichen Öffnung der Straße von Srinagar nach Muzaffarabad für Busse den Hauptort vom pakistanischen Teil Kaschmirs leicht erreichen.

Indien und Pakistan befolgen seit bald zwei Jahren einen Waffenstillstand, der die heiße Grenze in Kaschmir neben der Busroute auch für gelegentliche Militärkontakte etwas aufgeweicht hat. Gemäß indischer Darstellung kommt es noch immer zur Infiltration von Untergrundkämpfern – und die Stacheldrahtzäune auf der indischen Seite wurden an mehreren Stellen durchschnitten. Dies hat der Armee bisher das Argument geliefert, um dem pakistanischen Druck zu einer Verringerung seiner militärischen Präsenz in Kaschmir – rund 350.000 Mann – nicht stattzugeben. Dies ließ den Ton zwischen beiden Ländern bei der UNO-Generalversammlung im September merklich verhärten. Die Gespräche der beiden Außenminister vor Wochenfrist haben aber gezeigt, dass sie weiter am Annäherungsprozess festhalten, auch wenn er auch an Tempo eingebüßt hat.

Das Erdbeben könnte eine Gelegenheit sein, diesen Prozess wieder zu beschleunigen. Der in Indien tätige amerikanische Seismologe fasste die Hoffnung in diese Worte: Das Erdbeben, sagte er der Zeitung Indian Express, „ist ein Weckruf für beide Länder, dass sie hier einen Feind haben, den sie miteinander teilen“. BERNARD IMHASLY