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Immer mehr Opfer

Ein schweres Erdbeben tötet allein im pakistanischen Teil Kaschmirs über 30.000 Menschen. Zehntausende obdachlos

AUS DELHIBERNARD IMHASLY

Immer mehr Tote, immer größerer Schrecken. Das schwere Erdbeben in Pakistan, Indien und Afghanistan hat bedeutend mehr Menschen getötet, als zunächst geschätzt. Im Lauf des Sonntags zeigte sich, dass die Zerstörungen viel schwerer waren und weit mehr Opfer zu beklagen waren, als offizielle Stellen zunächst verkündet hatten. Am Samstag hatten erste Berichte von rund 1.300 Toten gesprochen. Der pakistanische Innenminister Aftab Khan Sherpao erklärte dann aber am Sonntag, die Zahl der Toten habe 19.136 erreicht, jene der Verletzten 42.300 – „und die Opferzahlen steigen stündlich“. Nach offiziellen Angaben soll das Beben allein im pakistanischen Teil Kaschmirs mehr als 30.000 Menschen das Leben gekostet haben.

Der Informationsminister dieses Kaschmirteils, Azad Kaschmir genannt, sagte sogar, es seien über 40.000 Menschen gestorben. Die Hälfte der Bevölkerung dieser Region – sie beträgt 2,4 Millionen – sei obdachlos. Der pakistanische Premierminister Shaukat Aziz erklärte nach einem Erkundungsflug, rund die Hälfte der Häuser in Azad Kaschmir seien zerstört.

Weniger als ein Jahr nach dem Tsunami-Seebeben im Südosten des Subkontinents hatte das Erdbeben am Samstagmorgen den Nordwesten der Region heimgesucht. Das Epizentrum des Bebens, das auf der Richterskala mit 7,6 gemessen wurde, lag 100 Kilometer nördlich der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Es breitete sich vor allem in Kaschmir und Pakistans Nordwestprovinz, westlich davon gelegen, aus.

Das Beben begann kurz vor neun Uhr Ortszeit, es dauerte etwa zwei Minuten, es gab drei heftige Stöße. Während des ganzen Samstags wurden 45 Nachbeben registriert, einige von ihnen mit einer Stärke von über 5 auf der Richterskala.

Die Rettungsarbeiten konzentrierten sich zunächst auf die Städte am Fuß der Himalaya-Vorgebirge, da viele Straßen in den Tälern von Erdrutschen unterbrochen waren und die Berichterstattung wegen zerstörten Telefon- und Strommasten kein klares Bild zuließ. Den schwersten Schaden erlitten die Städte Mansehra und Islamabad. In Mansehra stürzten zwei Schulen ein und begruben über 400 Kinder, die meisten wohl für immer. In der Hauptstadt brach ein zehnstöckiges Wohnhaus vollständig ein. Rund 100 Bewohner konnten am Sonntag lebend geborgen werden, 20 waren tot.

Im Lauf des Sonntags bestätigte sich dann die Befürchtung, dass die Region nördlich davon weit schwerer mitgenommen worden war. Die Stadt Balakot, mit einer Einwohnerzahl von 30.000, soll zu fast 90 Prozent ausradiert sein. Rettungsteams konnten die Stadt bislang nur über die Luft erreichen.

Muzaffarabad, der Hauptort des pakistanischen Teils von Kaschmir, soll bis zur Hälfte seiner Häuser verloren haben. Weiter talaufwärts liegt auf der anderen Seite der Waffenstillstandslinie Uri. Rund ein Viertel der bisher identifizierten 540 indischen Opfer starben in diesem Städtchen. Auch Baramullah am Eingang zum Tal von Srinagar wurde schwer mitgenommen.

Aus Afghanistan wurden keine größeren Zerstörungen gemeldet – außer der Einsturz eines Hauses in Jalalabad. Dabei kamen zwei Personen ums Leben.

Für Pakistan handelt es sich um das schwerste Erdbeben in seiner Geschichte. Präsident Pervez Musharraf sprach von einer „nationalen Katastrophe“, die ein „Bewährungstest für die Nation“ sei. Am Samstag hatte er noch angedeutet, dass die pakistanische Armee fähig sei, die nötigen Rettungsaktionen allein durchzuführen. Das Ausmaß der Schäden überzeugte ihn dann aber tagsdarauf, die internationale Gemeinschaft um Hilfe anzugehen. Er sprach davon, dass Medikamenten, Zelten und Finanzhilfe notwendig seien. Dringend vonnöten seien Militärhelikopter, da viele betroffene Gebiete nur aus der Luft zu erreichen seien.

Aus zahlreichen Ländern liefen Zusagen ein. Einige westliche Länder, darunter die Bundesrepublik, setzte Katastrophenhilfsteams zusammen. Das Technische Hilfswerk (THW) entsandte ein 15-köpfiges Bergungsteam. Auch Indien, obwohl selber vom Erdbeben heimgesucht, bot Hilfe an – ein Angebot, für das sich Musharraf bedankte, das er aber weder annahm noch ausschlug.

Die Katastrophenregion liegt in einer seismisch äußerst aktiven Zone. Die indische Gondwana-Platte trifft entlang der Südabdeckung des Himalaya-Massivs auf die eurasische Festlandplatte und stößt diese jedes Jahr um mehrere Zentimeter zurück und in die Höhe. Die tektonischen Strukturen, so der indische Seismologe Vinod Gaur, haben bei diesem Aufprall mehrere Brüche und Spannungsgefüge erlitten. Vier von ihnen kommen in der Erbebenregion zusammen.

Andere Seismologen sind der Meinung, dass das Beben vom Samstag nicht genügt habe, um den aufgestauten Druck freizugeben – es seien daher weitere Beben zu erwarten. Das letzte große Beben in dieser Region (abgesehen vom Tsunami) liegt sieben Jahre zurück. Dessen Epizentrum lag im Nordosten von Afghanistan. Es forderte 4.000 Opfer.

Die Schwere der Erschütterung durch das Beben lässt sich daran ermessen, dass sie selbst in der indischen Hauptstadt Delhi, fast 1.000 Kilometer vom Epizentrum entfernt, Menschen aus ihren Häusern trieb. Türrahmen ächzten, Gläser klirrten und ein dumpfes Rollen war spür- und hörbar. Besonders verängstigt waren die Bewohner der Hochhäuser, die in den letzten Jahren in den neuen Vorstädten emporgeschossen sind. In den teuren obersten Stockwerken bildeten sich Risse an den Mauern, und der Gips begann zu bröckeln. Diese Schäden hielten viele der – betuchten – Penthouse-Bewohner davon ab, ihre Wohnungen am Samstag wieder zu betreten. Sie zogen es vor, bei Verwandten Unterkunft zu suchen.

Auch die indische Staatsspitze war betroffen – wenn auch nur harmlos: In Chandigarh, weiter nördlich gelegen, wurde eine Regierungskonferenz unter Premierminister Manmohan Singh von den Sicherheitsdiensten abgebrochen. Das Kabinett wurde ins Freie geschickt.

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