Ein Test für die Regierungen Indiens und Pakistans
: KOMMENTAR VON SVEN HANSEN

Naturkatastrophen bringen tausendfach Tod und Leid, aber sie haben auch eine relativierende Eigenschaft, die positiv genutzt werden kann. Denn angesichts von Katastrophen wie dem jetzigen Erdbeben mit Epizentrum im pakistanischen Teil Kaschmirs treten alte Konflikte samt eingefahrener Verhaltensmuster in den Hintergrund. So wird der jahrzehntealte Konflikt um Kaschmir, der schon zu zwei Kriegen zwischen Indien und Pakistan führte, von der Notwendigkeit verdrängt, Menschenleben zu retten und Not zu lindern. Das Erdbeben unterscheidet nicht, wer in dem Konflikt welche Position bezieht. Vielmehr gilt es zunächst, schnell Hilfe zu leisten.

Es ist deshalb zu begrüßen, dass Indiens Premierminister Manmohan Singh, dessen Land vom Beben weniger betroffen ist, dem pakistanischen Militärmachthaber Pervez Musharraf umgehend Hilfe anbot. Dieser hat sich bedankt und gesagt, er werde vielleicht darauf zurückkommen. Sein Premier, Shaukat Aziz, sagte auf eine entsprechende Frage, er schließe nicht aus, dass die Armeen beider Staaten bei der Katastrophenhilfe zusammenarbeiten.

Beide Seiten, insbesondere aber Pakistans Regierung, müssen jetzt über ihren Schatten springen und im Interesse der Betroffenen grenzüberschreitende Hilfe ermöglichen. Denn manche betroffene Gebiete sind vom indischen Teil Kaschmirs schneller zu versorgen als von Pakistan aus. Indien muss sich dabei jedes Triumphalismus enthalten und darf mit seiner Hilfe nicht hoheitliche Ansprüche oder militärtaktische Ziele verbinden. Dann könnte das Beben nicht nur zur Zusammenarbeit der beiden verfeindeten Armeen führen, die noch 2002 kurz vor einem Krieg standen, sondern auch die Politik ins Rutschen bringen und eine Entspannungsdynamik auslösen.

Vorbild kann das Erdbeben in der Türkei 1999 sein, wo griechische Hilfe zur Annäherung beider Staaten führte. Oder der Tsunami im indonesischen Aceh, der im August zu einem Friedensabkommen führte, das ohne die Flut lange hätte auf sich warten lassen. In Sri Lanka dagegen zeigte die gleiche Katastrophe aber auch, dass es keinen politischen Automatismus zur Entspannung gibt. Dort verschärfte der Streit um die Verteilung der Hilfe das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien. Und auch die großen Zerstörungen durch den Hurrikan „Katrina“ in den USA reichten nicht aus, um Washington dazu zu bewegen, auf ein Hilfsangebot aus Havanna einzugehen und kubanischen Ärzten die Einreise zu erlauben.

Umso wichtiger ist es deshalb, dass Pakistan und Indien die Hilfe in den Vordergrund stellen und die Bewältigung der Katastrophe zur Vertrauensbildung nutzen. Pakistans Musharraf nannte das Beben „einen Test für die Nation“. Es ist jetzt auch ein Test für die Politiker. Wenn sie ihn bestehen, wäre bei aller Tragik der Tod so vieler Menschen nicht umsonst gewesen.