Tipp der Woche: Phillipp Böhm über den argentinischen Schriftsteller César Aira
: Einer, der Scherben liebt

Foto: Timo Berger

Der Einstieg in César Airas Novelle „Der Beweis“ wäre perfekt für das Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt geeignet: „Wollen wir ficken? Bitte sag ja!“, ruft ein nihilistisches Punk-Mädchen namens Mao der introvertierten Protagonistin im Vorbeigehen zu. Die Frage ist vielleicht doppelt ernst gemeint: aus der Perspektive der Figur als Reduktion auf das Wesentliche, aus der Perspektive des Autors als Einladung, sich mit ihm und seinen irren Plots einzulassen.

In den Texten des argentinischen Autors bleibt nichts lange vertraut: Ein übelschmeckendes Erdbeereis kann ein ganzes Leben aus der Bahn werfen, eine philosophische Diskussion über die Liebe zivile Opfer fordern. Jenseits des Atlantiks ist er längst etabliert und mit Preisen geehrt, in Deutschland steht das noch aus. Jetzt kommt er zu einer Lesung nach Bremen, zwei Bücher im Gepäck, die essayistisch und erzählend fragen, wie Kunst, Literatur und Welt zusammenhängen.

In „Eine Episode im Leben des Reisemalers“ geschieht dies über den Augsburger Maler Johann Moritz Rugendas, der im 19. Jahrhundert Argentinien bereist, um der Heimat Bilder exotischer Sehnsuchtsorte zu bescheren. Aira schickt ihn durch traumähnliche und apokalyptische Landschaften. Auf einer vertrockneten Ebene werden Rugendas und sein Pferd vom Blitz getroffen. Entstellt und vollgepumpt mit Morphium hört er trotzdem nicht auf zu malen, stellt aber sein Berufsbild auf den Kopf. Kein Strich auf dem Blatt darf die Wirklichkeit direkt abbilden. Konstruktion statt Dokumentation.

Die Suche nach neuen Motiven führt ihn schließlich in einen Indianerüberfall. Aira gelingt es in dieser zentralen Szene, halluzinatorische Bilder mit philosophischer Abschweifung zusammenzuführen, als wäre es keine große Sache. Das klingt dann so: „Es gab ein pausenloses Vorbeidefilieren von Indianern, bei dem das Flüchtige durch wiederholtes Erscheinen kompensiert wurde.“

Ein Scharmützel bekommt eine „algebraische Plastizität“ und angreifende Reiter kümmern sich nicht mehr um die Schwerkraft. Jeder Eindruck ist für den Maler schon Teil einer Skizze, sodass der Unterschied zwischen Gemälde und Beobachtung verschwimmt: Weil die Angreifer hinterher keine Gefangenen zu präsentieren haben, nehmen sie stattdessen ein weißes Kalb und einen „überdimensionalen Lachs“. „All diese Szenen“, findet der Maler, „passten mehr zu Gemälden als in die Wirklichkeit.“

Einen Blick von außen jedoch, der klären könnte, was Gemälde, was Phantasie und was Realität ist, findet man bei Aira nie. Es gibt immer diesen Moment, in dem das Gewohnte zerspringt und der Leser nur noch die Scherben dessen, was einmal Wirklichkeit war, auflesen kann.

„Fußnoten“ nennt Aira sein Schreiben in „Duchamp in Mexiko“, das ebenfalls gerade erschienen ist. Oder: „Gebrauchsanweisungen für von mir erfundene imaginäre Apparate, die die Wirklichkeit funktionieren ließen, wie ich es wollte.“ In einem Essay pilgert er durch Mexiko und kauft immer wieder denselben Bildband über Duchamp, der mit jedem Kauf noch etwas günstiger ist. Die Preisdifferenzen notiert er, als Schema für nachfolgende Schriftstellergenerationen, die daraus dann „zum Zeitvertreib“ Romane konstruieren sollen, in denen ihnen hoffentlich „die Realität real“ wird. Dass Aira die Realität nicht sonderlich real erscheint, ist für Leser jedenfalls ein Gewinn: Literatur, in der Verunsicherung eine schöne Sache ist, weil sie das Gegenteil von Langeweile bedeutet.

César Aira liest heute beim Tag der offenen Tür des Instituto Cervantes. Die Veranstaltung beginnt um 11.15 Uhr, die spanische Lesung um 16.30 Uhr, Schwachhauser Ring 124