Literatur Was Sozialkitsch oder eine bemühte Unterklassen-Reportage hätte werden können, wurde ein gutes Buch: Philipp Winklers beeindruckender Debütroman „Hool“
: Sich festhalten am falschen Leben

Zwei Kampfhunde spielen in dem Buch mit. Sie heißen Bigfoot und Poborsky Foto: Gamma/laif

von Dirk Knipphals

Selbstverständlich muss das damit beginnen, dass sie sich die „Drecksfresse“ polieren. Das geht nicht anders. Ein Roman, der „Hool“ heißt (toller Titel übrigens) und der in der Hooligan-Szene spielt, muss einfach mit einem „Match“ anfangen, einem Kampf zweier verfeindeter Hooligan-Gruppen. Weil man sonst ja auch als Leser nur darauf warten würde.

Der Autor Philipp Winkler – 1986 geboren, Studium an der Hildesheimer Schreibschule, bisher nur einige kürzere Texte in Anthologien und Zeitschriften, dies ist sein Debütroman – weiß das. Und vor allem weiß er, wie man so etwas richtig gut macht. Aus dem Angebot dieses Herbstes sticht dieser Roman nicht nur mit seinem heftigen thematischen Hintergrund heraus, sondern vor allem mit der Souveränität und, ja, Kunstfertigkeit, mit der er geschrieben ist. „Hool“ ist ein echt gutes Buch.

So setzt Philipp Winkler nicht direkt mit der Gewalt ein, sondern kurz vorher, mit der Fahrt dorthin. Der erste Satz ist von klassischer Schlichtheit: „Ich wärme meinen neuen Zahnschutz in der Hand an.“ Mit solchen genau gesetzten Details kann der Autor Authentizität herstellen – wenn es um die Qualität des Zahnschutzes geht, weiß man als Leser, dass der Autor sich mit dem auskennt, was er beschreibt.

Gleichzeitig lassen sich so die Hauptfiguren schon einmal einführen. Kai, Jojo, Ulf, Onkel Axel, Heiko – wir werden sie im Verlauf des Buches genau kennenlernen. Heiko am genauesten, bis in die Winkel seines Bewusstseins hinein, in die er sich selbst nicht traut. Heiko Kolbe, der die Schule abgebrochen hat und bei einem Menschen, der mitten in einem Wald bei Hannover Hundekämpfe organisiert, zur Untermiete wohnt. Heiko ist der Ich-Erzähler dieses Buches.

The Making of a Hooligan

In der Gewaltszene, die dann kommt, markiert Philipp Winkler deutlich die Entgrenzungs­situation – „Ein letzter Aufschrei. Der Wald verstummt. Dann prallen Körper aufeinander“ –, aber er suhlt sich auch nicht in der Gewaltschilderung. Und dann geht er schnell zum Alltag über, der ist schließlich krass genug. Stück für Stück, in einer sorgfältig aufgebauten erzählerischen Doppelbewegung, entblättert der Roman zum einen, was aus der Eingangsszene folgt, und zum anderen, wie es zu ihr kam: The making of a Hooligan wird genau beschrieben, und gleichzeitig kriegt dieses Buch es hin, einem nahezubringen, dass die Gewalt gar nicht das eigentliche Thema ist. Sondern das beschädigte Leben, das dahintersteckt, und wie man darüber glaubwürdig schreiben kann.

Bestimmt wird Philipp Winkler in den nun unvermeidlichen Porträts bald gefragt werden, woher er so viel aus der Hooliganszene weiß. Aber damit er diesen Roman schreiben konnte, war erzählerischer Abstand mindestens ebenso wichtig wie Nähe. Auf jeder Seite hat man als Leser die Sicherheit, dass dieser Autor weiß, was er tut. Es wäre sowieso ganz falsch, „Hool“ als Hooliganroman zu bezeichnen, so konkret ausgemalt die Szenerie auch wird: die Rituale, die Hackordnungen in der Gruppe, die Fan­beziehung zu Hannover 96, die Feindschaft zu den Braunschweigern, der Suff, die Anabolikaszene, osteuropäische Männerbünde, White-Trash-Lebensentwürfe – alles drin.

Es gibt auch großartige Szenen, in denen die vielen media­len Bilder anklingen, die man über Macho-Subkulturen gleich im Kopf hat. Bei einem Gespräch mit einem Türsteher fühlt man sich zum Beispiel in einen Scorsese-Film versetzt. Was einen aber wirklich durch das Buch zieht, ist das individuelle Drama des Heiko Kolbe, dem sein Leben auseinanderfällt.

Einer seiner Freunde wird erwachsen, beginnt ein Studium, gründet auch eine Familie und zieht sich allmählich aus der Hools-Gruppe zurück. Ein anderer Freund wird so zusammengeschlagen, dass er blind zu werden droht. Und Heiko muss erkennen, dass er selbst nichts anderes hat. Während seine Freunde von früher sozial aufsteigen oder aussteigen müssen, droht er in einem kaputten Leben übrigzubleiben. Und in derselben Bewegung hält er sich an dem falschen Leben fest.

Gleichzeitig offenbart die ehemalige Vorbildgeneration der harten Männer, wie fertig sie längst ist, entstellt von Alkohol und Gewalt. Die Dynamiken einer dysfunktionalen Familie drängen Heiko in ein Pendeln zwischen Wut und Hilflosigkeit. Der Vater Alkoholiker, die Mutter ist abgehauen – sie bleibt, nur kurz skizziert, die große Leerstelle in diesem Roman und markiert den Punkt, auf den man nicht schauen kann, weil es zu schmerzvoll wäre. Und doch ist dies auch ein Roman über die Macht von Familie und wie stark und lange Gefühle hier wirken. Zu den Höhepunkten des Buchs zählen die absolut glaubwürdigen Szenen, in denen Heiko seine Schwester Manuela vor dem in seiner Überforderung um sich schlagenden Vater verteidigt. Dennoch ist es immer wieder seine Schwester, die die Familie trotz alledem zusammenhalten will.

Drama eines Hools

Dass körperliche Schmerzen seelische Wunden überdecken können, ist ein alter Hut. In diesem Buch geht es auch darum, ob die Sprache beides ausdrücken kann

Das alles hätte auch Sozial­kitsch werden können oder eine bemühte Unterklassen­reportage. Philipp Winkler aber gibt dem Drama seiner Haupt­figur Würde und Genauigkeit. Irgendwann geht einem beim Lesen auf: Diesen Heiko Kolbe stattet Philipp Winkler mit so vielen Facetten aus, wie sie die Gegenwartsliteratur sonst nur Mittelklassefiguren zutraut. Brutalität und Empathie, Lebenstumbheit und Witz, Verbohrtheit und Einsicht in die Lage – das alles steht hart nebeneinander.

Die Trauer und der Schmerz

Intensität bekommt das Buch vor allem durch die Art und Weise, wie Philipp Winkler dieses Drama von innen her deutlich macht, schlicht, indem er Heiko Kolbe erzählen lässt. Manchmal ist ihm ganz klar, dass das alles so nicht weitergeht. Eine Szene schildert die allgemeine Trauer, nachdem der Hannover-96-Torwart Robert Enke sich das Leben genommen hat. Zum Thema „meine Gefühle artikulieren“ denkt sich Heiko: „Da fällt mir gar nichts mehr ein, mein Hirn blockiert und anstatt, dass irgendetwas Sinnvolles rumkommt, werde ich nur wütend.“ Süß, oder? An anderen Stellen hakt die Sprache aber auch wirklich aus, und was dann bleibt, ist eine leere Verzweiflung, in der Gewalt doch als Lösung erscheint.

Ob Heiko sein Leben tatsächlich reflektiert oder ob er sich erzählend gerade vor der Einsicht zu schützen versucht, dass sein Leben vor die Wand gefahren ist, das bleibt in der Schwebe. Dass körperliche Schmerzen seelische Wunden überdecken können, ist ein alter Hut. In diesem Buch geht es auch darum, ob die Sprache beides ausdrücken kann und ob Heiko Kolbe es schafft, sich mit der Sprache aus seinem Leben zu ziehen. Manchmal zeigt er seine Wunden vor, die körperlichen und die psychischen, und manchmal zeigt er auch nur die sprachlichen Pflaster, die sie überkleben sollen. Die Trauer und der Schmerz, die dahinter stehen, denkt man sich beim Lesen dazu.

„Hool“ wird seinen Weg machen und seine Leser finden. Im Literaturbetrieb war schon seit Wochen eine Vorfreude darauf spürbar, dass es diesen Roman gibt. Endlich keine Selbstbespiegelung. Endlich nicht nur Mittelklasse. Es wäre aber falsch, Philipp Winkler jetzt nur dafür zu feiern, dass er das wilde Außen, die tobende Wirklichkeit in die Literatur gebracht hat. Die Authentizitätsfrage ist hier nicht der Punkt. Wirklich beeindruckend ist vielmehr, wie anschaulich Philipp Winkler das Drama des Heiko Kolbe in diesem Debüt gestaltet hat.

Philipp Winkler: „Hool“. Aufbau Verlag, Berlin 2016, 312 Seiten, 19,95 Euro