Auf Disput gebürstet

Tanz Feine Antennen für das Zeitgeschehen hat die Tanzcompagnie Rubato schon oft bewiesen. In ihrer neuen Produktion „Voltage/Zero“ in den Uferstudios betreiben sie Konfliktforschung am bewegten Körper

Es geht ihnen um die „Potenzierung von Möglichkeiten“. Jutta Hell und Dieter Baumann Foto: Dirk Bleicker

von Annett Jaensch

Vier Menschen quetschen sich mit aller Macht unter einen Tisch, das Körperknäuel lädt sich in der drangvollen Enge zu einem unberechenbar pulsierenden Energiefeld auf. Die Grenze zur Eskalation, sie ist hauchdünn. Auf der Probebühne in den Uferstudios geht es konfrontativ zur Sache. Noch wenige Tage sind es bis zur Premiere von „Voltage/Zero“, und die Choreografen Jutta Hell und Dieter Baumann rücken letzte Details zurecht. Ein Stück über Konflikte und Dissens entsteht.

Da türmen sich umgehend nachrichtengespeiste Assoziationen auf: Flüchtlingskrise, das europaweite Erstarken populistischer Strömungen, Brexit. Jeden Tag liefert die Weltbühne neue Bilder von Streit- und Konfliktfronten. Die Idee zum Stück als Abschluss einer Trilogie sei ihnen bereits vor drei Jahren gekommen, erzählt Jutta Hell in einer Probenpause. „Die Realität wurde letztendlich immer konfliktreicher.“

Wiedererkennungswert

Wie übersetzt man solch eine Thematik in tänzerische Bewegung? „Durch Gespräche über Konflikte im privaten Umfeld oder auch über Politik hatten wir eine Grundlage“, erklärt Dieter Baumann, „es ist klar, dass der Körper keinen Syrienkonflikt tanzen kann. Trotzdem macht es etwas mit der eigenen Stimulation, Material im Kontext Dissens zu finden“. Wie Mercedes Appugliese, Dieter Baumann, Carlos Osatinsky und Anja Sielaff sich im Stück begegnen werden, gleicht einem Panoptikum an Situationen mit hohem Wiedererkennungswert.

In einem simplen Setting – ein Raum, ein Tisch und vier Stühle – reibt sich das Performerquartett in geradezu archetypischen Mustern aneinander. Mal in Paarkonstellationen, mal als Gruppe agieren sie ihre Affekte aus, schmieden Allianzen und lassen diese genauso schnell wieder fallen. Keine Linearität in der Handlung, vielmehr ein Gewebe an fluide vorwärtsdrängenden Szenen, die abrupt abbrechen und in andere Richtungen schwenken können, so hat das Kreativgespann Hell und Baumann „Voltage/Zero“ angelegt.

Wer mag, kann hier auch einen Kommentar auf Wahrnehmungsmechanismen herauslesen, die mit medialen Erregungskurven korrelieren. Ein Konflikt, heute noch in aller Munde, kann morgen schon aus dem Gesichtsfeld der öffentlichen Wahrnehmung nahezu verschwunden sein. Bestes Beispiel dafür: die Griechenlandkrise. Jutta Hell und Dieter Baumann sind versierte Wanderer durch Körperlandschaften. Im vergangenen Jahr feierten sie das 30-jährige Bestehen ihrer Tanzcompagnie Rubato, die damit die dienstälteste zeitgenössische Formation in Berlin ist.

Ein kulturpessimistisches Lamento haben Rubato jedenfalls nicht im Sinn

Feine Antennen für das Zeitgeschehen haben die beiden Tänzer und Choreografen oft bewiesen. Ihre Arbeiten versehen sie gern mit einem philosophisch-soziologischen Unterfutter, so speisten sich etwa die Schriften von Michel Foucault oder Gilles Deleuze bereits als Ideengeber ein. Zuletzt untersuchten sie in „Uncertain States“ (2015) das Schwinden von Stabilität. Für das Duett-Triptychon „Wiederholung und Differenz“ befragten sie – mottohaft im Jubiläumsjahr – das eigene Schaffen.

„Voltage/Zero“, die nunmehr 56. Produktion, schließt die Trilogie ab. In allen drei Arbeiten besonders im Fokus: das Konzept der Kontingenz, wonach menschliche Lebenserfahrungen prinzipiell offen und verhandelbar sind. „Es geht um die Potenzierung von Möglichkeiten, die alle richtig sein können. Je nachdem, welchen Standpunkt man hat“, so Baumann. Vielleicht wirkt deshalb auch die konfliktträchtige Bühnensituation weniger wie ein Minenfeld, sondern mehr wie ein Labor der Begegnungen. In dem die Performer*innen nicht nur ungestüm aufeinanderprallen, sondern immer wieder Energien umlenken und kollektive Momente erleben.

Ein kulturpessimistisches Lamento haben Rubato mit ihrem Kommentar auf die Krisenhaftigkeit unserer Tage jedenfalls nicht im Sinn. Die Frage, wie man die Handlungsfähigkeit bewahrt und Werte verteidigt, treibt sie vielmehr beim Ausformen ihrer Körperbilder um. „Wie können wir es schaffen, dass wir eine plurale Gesellschaft bleiben?“, resümiert Baumann. „Voltage/Zero“ darf deshalb auch so verstanden werden: als Einladung in einen „Nachdenkraum“.

Premiere: 28. 9., 20.30 Uhr; weitere Termine: 29./30. 9., 1. 10., 20.30 Uhr; 2. 10., 17 Uhr; Uferstudios