Lidokino 10 Der Wettbewerb enttäuscht, die Retrospektive der Filmfestspiele von Venedig gefällt: Das Muranoglas ist erleuchtet
Bevor man nach Venedig reist, stellt man sich vor, nebenher auch die Stadt erkunden zu können. Real verlässt man morgens San Marco, um am Ende bis zum Abend auf dem Lido zu bleiben, und wenn man nachts zurückkehrt, leuchten noch Schaufenster mit sehr teurem Muranoglas und Designermode. Um 23 Uhr werden auch ihre Lichter ausgeschaltet.
Statt mit dem Wettbewerb der Filmfestspiele wünscht man sich dafür tatsächlich, die Zeit besser im Museum oder mit Umhergehen entlang den Kanälen verbracht zu haben. Andererseits, wenn man schon genau wüsste, was das Programm taugt, bräuchte man ja nicht nach Venedig zu kommen.
Der russische Altmeister Andrei Kontschalowski etwa hat mit „Paradise“, einer Geschichte aus der NS-Zeit, allemal einen der besseren Werke zum Wettbewerb beigesteuert. In Schwarzweiß lässt er einen französischen Kommissar, eine russische Widerstandskämpferin und einen SS-Offizier jeweils in einer Art Verhörraum ihre Lebensberichte ablegen. Lange Zeit bleibt unklar, wo und warum sie das tun. Die Verhörsituationen sind statische Einstellungen, bei denen man den Schauspielern frontal ins Gesicht blickt, irritiert werden Betrachter der Szenen allein durch ruckartige Schnitte. Wie bei einem Interview, bei dem die Reporterstimmen herausgeschnitten wurden, antworten die drei Figuren auf Fragen, die man nicht zu hören bekommt.
In Rückblenden folgt der Film den drei Protagonisten auf ihren jeweils miteinander verbundenen Geschichten. Der Kommissar Jules verhört als Kollaborateur die Widerstandskämpferin Olga, die in Paris jüdische Kinder vor den Nazis versteckt hat. Im Konzentrationslager wird Olga dem SS-Offizier Helmut begegnen. Wie sich herausstellt, hatten sich ihre Wege zuvor schon in friedlichen Zeiten gekreuzt. Und Helmut, der wie Olga aristokratischer Herkunft ist, muss einige Widersprüche aushalten, um sein Herrenmenschenweltbild mit seiner Leidenschaft in Einklang zu bringen.
Kontschalowski gelingt es besonders in der ersten Geschichte von Jules und Olga, die Ambivalenz zwischen dem bieder-treusorglichen Familienvater einerseits und dem opportunistischen Nazi-Handlanger andererseits zu skizzieren. In der Geschichte von Helmut hingegen wird dessen NS-Karriere – eine vertrauliche Begegnung mit Himmler eingeschlossen – weniger plausibel skizziert. Vielleicht ist der für Tschechow schwärmende NS-Aufsteiger einfach eine Spur zu widersprüchlich angelegt, um realistisch zu wirken.
Und das italienische Kino? Zeigt sich im Wettbewerb fast ausschließlich von seiner schlechten Seite. Giuseppe Piccionis „Questi giorni“ (These Days) ist nach „Piuma“ das zweite Fliegengewicht unter den Konkurrenten. Und während „Piuma“ immerhin ein paar gute Witze aufbieten konnte, genügt sich „Questi giorni“ fast ausschließlich in pointenfreier Selbstverliebtheit.
Vier junge Frauen stehen an der Schwelle zu dem, was gemeinhin „Erwachsenwerden“ genannt wird. Eine von ihnen, Liliana, hat Krebs. Das sagt sie den Freundinnen aber nicht, geschweige denn der Mutter (unverwüstlich: Margherita Buy). Stattdessen beschließen die vier, gemeinsam nach Belgrad zu fahren, wo die eigenbrötlerische Caterina einen Job angenommen hat.
Die Reise dahin verläuft so, wie Urlaubsreisen manchmal eben sind: Man streitet sich, lernt Leute kennen, und irgendwann kommt man an. Doch obwohl zumindest Liliana ein existenzielles Problem hat, gelingt es Piccioni, die Ereignisse mit maximaler Belanglosigkeit zu schildern. Da hilft es auch nicht, dass neben Margherita Buy mit Filippo Timi ein weiterer exzellenter Darsteller in einer Nebenrolle nach Leibeskräften versucht, zu retten, was nicht zu retten ist.
Dann lieber zur Erbauung ein bisschen Filmgeschichte. Unter den „Klassikern“ gibt es mit „Pretty Poison“ (1968) vom US-Amerikaner Noel Black ein tolles Beispiel dafür, wie man souverän mit heterogenen Genres spielen und eine ästhetisch geglückte wie erzählerisch dichte Noir-Komödie hinbekommen kann. Anthony Perkins und Tuesday Weld brillieren in diesem übersehenen Kleinod voller Situationskomik als psychisch auffällige Gelegenheitsmörder. Geht doch!
Tim Caspar Boehme
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