Das Oktoberfest gehört zu unserer norddeutschen Kultur. Hamburg hat elf Oktoberfeste und damit mehr als München
: Weiß-blaue Wimpelketten der Wandsbeker Wiesn

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

Katrin Seddig

Es ist immer schön, wenn alte Traditionen zünftig gepflegt werden, wenn althergebrachte Sitten und Gebräuche weiterleben, auch wenn die Erfinder einer Tradition nicht mehr gefragt werden können, was die eigentlich bedeutet. Denn was bedeutet das Oktoberfest? Was wird dort gefeiert? Der Oktober?

Schon unsere Urgroßeltern haben bei Weißwurst und Sauerkraut gesessen, haben Brezn geknabbert und eine zünftige Gaudi gehabt. Sie haben sich aus den norddeutschen Rindern die einzig echten Lederhosen noch mit der Hand zusammengenäht und jede stolze schleswig-holsteinische oder niedersächsische Frau besaß wenigstens neun anständige Dirndl.

Gerade jetzt, wo immer mehr Fremde in unser Land kommen, die ihre eigenen Traditionen mitbringen und möglicherweise sogar ihre eigenen Feste feiern, ist ein Festhalten an diesen regionalen Bräuchen wichtig. Den deutschen Menschen bedeutet das etwas, sie wollen nicht irgendwas feiern, was sie gar nicht kennen und was mit ihrer Kultur und ihrer Geschichte nichts zu tun hat.

Oder vielleicht wollen sie auch einfach nur saufen. Das Oktoberfest ist in erster Linie zwar ein Fest der Traditionen, aber das Saufen ist nun mal die wichtigste Tradition des Oktoberfestes. Man kann nicht nicht saufen auf dem Oktoberfest. Deshalb ist die kleinste Maßeinheit ein Liter (Bier). Nach drei Maß Bier hat eine Frau von sechzig Kilogramm einen Alkoholgehalt von 3,65 Promille, ein Mann von 80 kg nur 2,29 Promille. Deshalb trinken Männer immer sieben und Frauen nur fünf Maß norddeutsches Weißbier.

Schon in Hamburg gibt es elf Oktoberfeste: das Oktoberfest in der Treudelberger Hütte vor dem Steigenberger Hotel, das Langenhorner Oktoberfest, die Wandsbeker Wiesn, das Oktoberfest im Hofbräuhaus an der Alster, die Hamburger City-Wiesn am Hühnerposten, das Oktoberfest in der Fischauktionshalle, das Ahrensburger Oktoberfest, das Oktoberfest im Speicher in Harburg, das Norderstedter Oktoberfest und das Bergedorfer Oktoberfest auf dem Frascatiplatz. Damit hat Hamburg zehn Oktoberfeste mehr als München. Hamburg ist sozusagen der Mittelpunkt des großen traditionellen Oktoberfestrausches im Norden.

Mein persönlicher Favorit der Hamburger Oktoberfeste ist die Wandsbeker Wiesn. Die Wandsbeker Wiesn weist eigentlich keine Wiese auf, da sie auf dem Beton stattfindet, zwischen der fünfspurigen Wandsbeker Marktstraße, der vierspurigen Schlossstraße und dem Busbahnhof. Der Verkehr wirkt sich nicht störend aus. Es gibt ausreichend Eigengeräusch im Inneren der Wiesn und man kann also ungestört die Haupttradition pflegen, das Saufen.

Eine andere Tradition des norddeutschen Oktoberfestes ist das Fleischessen. Das wird schon seit einiger Zeit von genussfeindlichen Veganern schlechtgemacht. Aber der Oktoberfestbesucher oder der „Wiesn-Besucher“, wie wir Norddeutschen sagen, lässt sich das Schweinshaxln-Essen nicht verbieten. Die berühmte schleswig-holsteinische Weißwurst wird hier auch weiterhin auf den Tisch kommen. Dazu sind Traditionen ja da, sie sollen uns daran erinnern, wo wir herkommen und wer wir sind.

Wir feiern unser Halloween, unser Oktoberfest und Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Vatertag und wir feiern, dass Deutschland Weltmeister ist, wird oder war. Auch unsere Kinder werden irgendwann ihre erste norddeutsche Rindslederhose tragen und werden die Wandsbeker Chaussee entlang, unter weiß-blauen Wimpelketten, zur Wandsbeker Wiesn ziehen. Und das nicht nur im Oktober! Die Wandsbeker Wiesn gibt’s auch im April, die Wandsbeker Frühlingswiesn.

Kann es sein, dass von hier aus eine neue Tradition in die Welt hinausgeboren wurde? Das Frühlingsoktoberfest? Man kann es nicht wissen, aber wichtig ist, dass wir daran festhalten. Das Oktoberfest gehört zu unserer Kultur. Das dürfen wir nicht vergessen. O’zapft is (plattdeutsch).

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.