Ein zweifelnder Messias

LIDOKINO 5 Fiktive Morde bei Tom Ford, lebensrettende Lügen bei François Ozon – und immer wieder Gott auf den Filmfestspielen von Venedig

Zwischen sieben und acht Uhr morgens ist der Markusplatz menschenleer. Man sieht Straßenreiniger, Jogger, eine Handvoll Touristen; manchmal ist ein Filmregisseur wie Kim Ki-duk darunter. Spätestens am Anleger des Vaporetto Richtung Lido trifft man dann vermehrt auf Menschen mit blauen Akkreditierungsbändern. Ein bisschen ist es, als wechselte man mit dem Boot von der einen Realität in die andere.

Spiele mit den Wechselwirkungen von Fiktion und Wirklichkeit sind im Wettbewerb diesmal des Öfteren zu bewundern: Neben Wenders’„Les ­beaux jours d’Aranjuez“, in dem sich ein Schriftsteller mit den Geschöpfen seiner Imagination nicht nur den Ort der Handlung, sondern oft auch das Bild teilt, gibt es eine Reihe weiterer, unterschiedlich überzeugender Verschachtelungen der Realität.

In Tom Fords „Nocturnal Animals“ schickt ein Schriftsteller seiner ehemaligen Ehefrau seinen ersten Roman, der genauso heißt wie der Film. Das Buch ist ihr, Susan (nach „Arrival“ zum zweiten Mal vertreten: Amy Adams), gewidmet und erzählt eine gemeinsame Geschichte, die sich so nicht zugetragen hat. Susan wird darin – symbolisch – getötet, woraufhin ihr Mann, Edward (Jake Gyllenhaal), verzweifelt die Täter zu finden versucht. Die zwei Stränge vermischen sich mit Susans Erinnerungen an die reale Ehevergangenheit, was nicht immer leicht auseinanderzuhalten ist. Am Ende gerät der Plot dann zu einer etwas arg verbiesterten Rache-Geschichte, die das komplizierte Konstrukt der Handlung ungut implodieren lässt.

Schöner, vielleicht zu schön, aber eben auch ergreifend schön melodramatisch und geschickt verstörend macht François Ozon seine Sache mit „Frantz“, einer deutsch-französischen Koproduktion, die in beiden Ländern kurz nach dem Ersten Weltkrieg spielt. Eine junge deutsche Frau, Anna, trauert um ihren Verlobten Frantz, der als Soldat in Frankreich gefallen ist. Dann taucht in Quedlinburg ein Franzose am Grab von Frantz auf, der sich als Adrien, als ein Freund des Gefallenen, zu erkennen gibt und regelmäßig dessen Eltern und Anna besucht. Dass seine Trauer noch einen anderen Grund hat, erfahren Anna und das Publikum erst später.

Die echte, weit unerfreulichere Version der Ereignisse verschweigt Anna den Eltern von Frantz, um sie zu schützen. Adrien reist zurück nach Frankreich und ist wenig später nicht mehr aufzufinden. Jetzt macht sich Anna in seine Richtung auf, um ihm ihre Geschichte zu präsentieren, in der wiederum Adrien einige entscheidende Elemente vorenthalten werden.

Die Lügen, mit denen sich beide Figuren behelfen, sollen dabei in erster Linie das Leben mit dem Verlust erträglicher machen. Ozon, der den Film überwiegend in Schwarz-Weiß gedreht hat, hebt die Momente, in denen diese Notlügen erzählt werden, farbig vom Rest des Geschehens ab. In dem Moment erscheinen sie jedoch wie rosige Erinnerungen. Ein virtuoses Melodrama, das große Gesten nicht scheut, ohne sie zynisch dem Klischee preiszugeben.

Um bei den ganz großen Gesten zu bleiben: Sogar Gott taucht wiederholt im Programm auf. Im Wettbewerb etwa im mit beeindruckenden Wüstenbildern arbeitenden chilenischen Beitrag „El Cristo ciego“ (The Blind Jesus) von Christopher Murray über einen selbsternannten, zweifelnden Messias – oder im niederländischen Noir-Western „Brim­stone“ von Martin Koolhoven, in dem Guy Pearce einen protestantischen Pastor gibt, der seine Stellvertreterfunktion Gottes vor allem auf Kosten der Frauen auslebt. Dakota Fanning muss als Tochter dieses perversen Predigers so viel über sich ergehen lassen, dass man irgendwann definitiv vom Glauben abfällt – an diesen Film.

Tim Caspar Boehme