Wille zumAusbruch

FILMREIHE Das Zeughauskino zeigt eine Auswahl der ambivalenten wie kritischen Filme der Slowakischen Neuen Welle

„Seid vorsichtig! Achtung! Die Neue Welle!“: Juraj Jakubiskos „Vöglein, Waisen und Narren“ (1969) Foto: Slovak Film Inastitute

von Dennis Vetter

Auf der Müllkippe gibt es Unmengen an alten Filmrollen. Für Martha, Yorck und Adrew ist es ein Paradies. Sie sind drei manische junge Leute auf der Durchreise. Und überall fotografieren sie eifrig. Vor allem lichten sie sich gegenseitig ab, weil sie besessen sind von der Welt und ihren Erscheinungen, sich unentwegt einen Platz am Rande der Gesellschaft einbilden und ausmalen wollen. Aus Überzeugung haben sie sich abgewendet und hausen in einer Ruine.

Irgendwann spricht Martha zur Kamera: „Die Welt ist schmutzig, dreckig und grausam. Ich fotografiere sie mit meinen Augen. Alles Böse darin. Und je mehr ich absorbiere, desto mehr nehme ich mit mir, wenn ich gehe. Und so viel weniger Böses verbleibt in der Welt.“ Zurück zum Film: Die drei sammeln die Filmstreifen auf, denn 35-Millimeter-Material taugt hervorragend für Kostüme! Sie tollen herum mit den unerwarteten Requisiten, dann zünden sie alles an und stehen bald neben einem riesigen Haufen brennender alter Bilder. Noch dazu pinkeln sie auf den Müllberg und sinngemäß auf das Kino der Vergangenheit: „Seid vorsichtig! Achtung! Die Neue Welle!“

Juraj Jakubisko studierte bis Mitte der 1960er Jahre an der Famu der Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste in Prag – an jener Filmschule, die damals zahlreiche aufstrebende Stimmen des tschechoslowakischen Kinos zusammenführt. „Vöglein, Waisen und Narren“ (Vtáčkovia, siroty a blázni) ist erst Jakubiskos dritter Langfilm. Doch kurz nach seiner Premiere im Jahr 1969 verschwindet der Film. Das sowjetische Regime verbietet ihn.

Die hoffnungsvollen Töne des Prager Frühlings sind erst vor Kurzem verstummt, wurden durch Truppen aus der Sowjetunion und weiteren Ländern des Warschauer Pakts erstickt. Kritische Stimmen haben es wieder schwer. Es verwundert nicht, dass die jungen Wilden in Jakubiskos Film Kriegswaisen sind: „Unsere Eltern haben sich gegenseitig umgebracht.“ Sekin Film erkundet das Unstetige, das sich Verändernde, das Anarchistische als Quellen der Inspiration, sucht nach freier Energie, die sich inmitten von Unruhen, Machtapparaten und Traumata durchsetzen kann. Da ist eine Radikalität und kritische Schärfe zu sehen und ein unbändiger Wille zum Ausbruch in Formen, Dialogen und Gesten. Eine Radikalität, die in zahlreichen tschechischen und slowakischen Autorenfilmen der Zeit angelegt ist, jedoch nur selten so wild und ungestüm hervorbricht. Erst 1989 wird Jakubiskos Film wieder aus dem Schrank geholt. Und nicht nur sein Film wurde in jenen Jahren weggesperrt.

Radikal sind zahlreiche tschechische und slowakische Autorenfilme jener Jahre

Material, Karrieren und Bilder – sie alle umreißen eine Zeit der gesellschaftspolitischen und künstlerischen Bewusstwerdung. Vom 20. bis 30. September sind im Zeughauskino neben Jakubiskos Film Arbeiten von Štefan Uher, Peter Solan, Eduard Grečner, Dušan Hanák und Elo Havetta zu sehen. Als slowakische Vertreter der Tschechoslowakischen Neuen Welle zeichnen sie in den 1960er und 1970er Jahren spezielle Perspektiven, die heute in Aufarbeitungen oft als transnational, eben als tschechoslowakisch, erscheinen. Zu ihrer Zeit hätte eine Pauschalisierung kultureller Identitäten manche provoziert. Schon 1968 wird unter Alexander Dubček der Grundstein für die Unabhängigkeit der heutigen Tschechischen Republik und der Slowakei gelegt. Eine Föderation soll her. Bis zum Zerfall der Tschechoslowakei im Jahr 1993 bleibt das ein Thema.

Für „Der Drache kehrt zurück“ (Drak sa vracia) besetzt Jakubiskos Famu-Kollege Eduard Grecner 1968 die Hauptrolle mit dem tschechischen Schauspieler Radovan Lukavský. Der Film entwirft ein heidnisches Dorfszenario, irgendwo auf dem Gebiet der späteren Slowakei. Kostüme sind einfach, die Orte sorgsam und künstlich, das gesamte Team lebt darin wie im Mittelalter. Gefilmt wird mit Teleobjektiv. Die Bilder erscheinen magisch, wie aus einer fremden Welt und Zeit. Lukavský spielt einen Verstoßenen, der von der Gemeinschaft nur Ablehnung erfährt. In der Vergangenheit liegen Wunden. Die slowakische Schauspielszene ist empört, weil ein Tscheche diesen Außenseiter spielen soll, „als könnte man eine Nationalität im Bild festhalten“, scherzt Grečnerim Jahr 2010 im Interview. Bis heute vermag das keine Kamera.

Retrospektive Slowakische Neue Welle: Unter den Linden 2 (Eingang Spreeseite), 20.–30. 9.