Vom Programm redet keiner mehr

Seit zwei Jahren hat sich die CDU vom Sozialen verabschiedet. Der Rückweg fällt schwer

Die Stunde des Triumphs ist zugleich die Stunde der Rat- und Ziellosigkeit. Gut, Angela Merkel wird Bundeskanzlerin, aber was bleibt von den hochfliegenden Projekten, mit denen die CDU den „Aufbruch für Deutschland“ bewerkstelligen wollte?

Was bislang an gemeinsamen Projekten der großen Koalition durchgesickert ist, betrifft zwar eine Reihe wichtiger Politikfelder wie die Familien-, Bildungs- und Föderalismusreform. Auch will man Ausnahmetatbeständen im Steuerrecht zu Leibe rücken. Aber vom Herzstück der CDU-Wahlpropaganda ist nichts mehr zu hören. Weitere Flexibilisierung und Verbilligung der Arbeitskraft? Weitere Senkung der Unternehmens- und Einkommensteuer? Kopfpauschale im Gesundheitswesen? Von all diesen Maßnahmen hatte sich die CDU einen Wachstumsschub versprochen. Dieses Versprechen haben die Wähler nicht honoriert.

Der Leipziger Parteitag von 2003 hatte mit einem harten neoliberalen Profil die Führung Merkels etabliert. Er sollte der CDU so etwas wie eine neue Identität verpassen. Die alte war brüchig geworden, denn der Anti-Sozialismus hatte nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regime in Europa ausgedient. Und der alten „sozialen Marktwirtschaft“ mit ihrem Konsensprinzip traute man nichts mehr zu: zu teuer, zu uneffektiv.

Der Parteitag war von einem geradezu delirierenden optimistischen Gedankenlosigkeit getragen. Dort trug die Partei ein altes Konzept zu Grabe, ohne sich groß darum zu kümmern, worin eigentlich die Klammer bestehen sollte, die das große Integrationsunternehmen CDU fürderhin zusammenhalten würde. Zwei Jahre lang verbuchte die Union bei Landtagswahlen mehr ArbeiterInnen-Stimmen als die SPD – angesichts der rollenden Hartz-Sozialabbau-Offensiven.

Für die CDU war dieser immense Zuwachs kein Anlass, ihre Vorstellung von künftiger sozialer Gerechtigkeit neu zu justieren. Sie verlangte vielmehr von den Lohnabhängigen, realen Kürzungen in der vagen Hoffnung auf Arbeitsplätze zuzustimmen. In der CDU-Führung kursierte der Gemeinspruch: Gerecht ist, was Arbeit schafft. Mit diesem auf eine strahlende Zukunft gezogenen Wechsel glaubte man sich aller weiteren Überlegungen ledig.

Aber die CDU hat die Wahl 2005 nicht verloren, weil sie ein Vermittlungsproblem gehabt hätte. Sie verlor sie, weil gerade den neu gewonnenen Arbeiter-Wählern klar wurde, dass auch die das elementare Gerechtigkeitsempfinden beleidigenden Zumutungen keine Arbeit, also auch keine künftige „Gerechtigkeit“ bringen würden. Das Wahlresultat folgte deshalb einer rationalen Abwägungslogik.

Was heute von CDU-Analytikern als die „soziale Kälte“ ihres Wahlkampfs beklagt wird, hat bereits in den vergangen zwei Jahren jene christlich-konservativen Kräfte entfremdet, die sich mit dem jetzt triumphierenden wirtschaftsliberalen Flügel jahrzehntelang zu einer widerspruchsvollen Einheit zusammengefunden hatten. Zwar sind die Anhänger dieses festgefügten Wertekosmos in der Gesellschaft auf verlorenem Posten, aber für die CDU blieben sie Garanten des „C“. Konservativ sein, also auch um den Zusammenhalt der Gesellschaft besorgt, und gleichzeitig an der Spitze des Fortschritts marschieren – das war die Zauberformel.

Die Entfremdung christlich-konservativer Kreise machte sich spürbar im Verhältnis der Kirchen zur CDU-Asyl und Zuwanderungspolitik, in der Sozialpolitik, teils auch in Fragen der „inneren Sicherheit“. Wollte die CDU diese Kräfte erneut mobilisieren, so müsste sie deren Vorstellungen fusionieren mit den Wertorientierungen jener neuen Zwischenschichten, die Angela Merkels Neoliberalismus zustimmten, jetzt aber von den Ergebnissen der Koalitionssondierungen tief enttäuscht sind.

Auch treten die Gegensätze zwischen der konservativen Familien- und Sexualpolitik und den liberalen Haltungen der CDU-Individualisten mittlerweile offen zutage, sind also kaum noch unter Formelkompromissen zu begraben. Ein wohltemperierter Patriotismus als Ersatzkitt? Das wurde schon versucht, es hat aber nicht geklappt. Es bewahrheitet sich ein weiteres Mal das alte Sprichwort, wonach es zwar einfach ist, Fische in eine Fischsuppe zu verwandeln, das umgekehrte Verfahren aber aussichtslos ist. CHRISTIAN SEMLER