der rote faden
: Wenn die private Paranoia politisch wird, hilft nur Baldrian

Generation Mitte

durch die woche mit

Nina Apin

Haben Sie auch immer so viele Gefühle? Also, ich ja ständig: Freude, Ärger, Stress, Liebe, Angst und Hass, alles dabei. Im persönlichen wie beruflichen Alltag überwiegt bei mir allerdings dann doch das Gefühl, es geht mir gut, womit ich mich laut aktueller Allensbach-Umfrage im Einklang mit 75 Prozent der befragten Deutschen zwischen 30 und 59 Jahren befinde. Diese sogenannte Generation Mitte schätzt die eigene Lebensqualität als positiv ein. Was sich ja auch deckt mit den sprudelnden Steuereinnahmen, der geringen Arbeitslosigkeit, der seit Jahren sinkenden Gewaltkriminalität.

Sinkende Kriminalität? In welcher Stadt lebst du denn?, würde mein Nachbar jetzt fragen. Er, der nicht nur denselben Wohnort, sondern auch denselben soziokulturellen Hintergrund hat wie ich – in einer bildungsorientierten, mehr oder weniger christlich-abendländisch geprägten Mittelschicht­familie in Westdeutschland aufgewachsen, akademisch gebildet, mit eigener Familie –, ist dagegen sehr unzufrieden. Er fühlt sich latent bedroht: von den gläubigen Muslimen mit ihren Gebetsketten und verhüllten Frauen in unserem Viertel. Von den türkischstämmigen BerlinerInnen, in denen er fanatische Erdoğan-Anhänger wittert. Und abstrakt von antichristlichen und frauenfeindlichen Ressentiments, die vermeintlich mit den Asylbewerbern ins Land gelangten.

Schleier

Es heißt ja immer, die persönliche Erfahrung präge das Bewusstsein. Und dass Kontakt Sympathie schaffe. Die Flüchtlingskinder auf unserem Spielplatz: umgänglich und nett. Unsere Kopftuch tragende Kita­erzieherin? Findet Erdoğan gut, aber arbeitet friedlich mit einer Transsexuellen zusammen und feiert mit unseren Kindern Weihnachten.

Mein Nachbar zählt nicht auf Empirie, er sammelt lieber nachts im Netz Geschichten von drangsalierten Christen, begrabschten Frauen und skandalösen EU-Entscheidungen. Und wartet fast schon sehnsüchtig auf das eine schlimme Ereignis, mit dem er seine Ängste begründen kann.

Die private Paranoia ist neuerdings politisch. Ein Jahr vor der Bundestagswahl bestimmen Gefühle in einem Ausmaß den politischen Diskurs, dass man sich manchmal fragt, ob halb Deutschland langsam den Verstand verloren hat. In einem TV-Duell vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus sagte am Dienstag Georg Pazderski, Spitzenkandidat der Berliner AfD: Auf die Statistik komme es nicht an, sondern auf das „Gefühl“ der Bürger. „Das, was man fühlt, ist auch Realität.“

Wahlen

Eine Kostprobe der gefühlten Realität der AfD-Anhänger steckte am Donnerstag in meinem Briefkasten. In einem zehnseitigen Extrablatt beschwor ein „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten“ die BRD-Apokalypse herauf. Der Staat: vor dem Versagen. Die Bürger: verbarrikadieren sich in ihren Wohnungen und sind getrieben von der Angst vor der explodierenden Einbruchskriminalität. Ja, sie meiden sogar Schwimmbäder, öffentliche Verkehrsmittel und ganze Stadtteile aus Furcht vor sexueller und deutschenfeindlicher Gewalt.

Interessant. Von welchem Land ist hier noch mal die Rede?

Apokalypse

Selbst wenn es Bürger geben sollte, die sich wirklich so fühlen: Was will man da machen? Baldrian in die öffentliche Trinkwasserversorgung kippen? Ihnen Seelsorger nach Hause schicken? Sogar Merkel scheint schon angesteckt, wenn sie sich, wie in ihrer Rede vor dem Bundestag am Mittwoch geschehen, zu einer vor Banalität strotzenden Beschwörungsformel hinreißen lässt: „Deutschland bleibt Deutschland“ ist ein rührend-unbeholfener, aber natürlich fruchtloser Versuch, zu Menschen durchzudringen, die sich in einen Panzer aus Angst, Hass und Unzufriedenheit eingeigelt haben. Aber egal, was Merkel zurzeit auch sagt: Wenn es von ihr kommt, kann es nicht richtig sein, denken die einen. Die anderen haben so viel Angst, von den einen Wählerstimmen weggenommen zu bekommen, dass sie schneller von der Kanzlerin abrücken, als Sigmar Gabriel Ceta sagen kann. Ich stelle mir manchmal vor, wie Merkel zu Hause auf einen Sandsack einhaut, den sie Frauke nennt.

Oder auch Horst. Der versucht sich jetzt so eifrig als Seelsorger der Verängstigten und Hasserfüllten, dass sich die AfD schon Sorgen um ihren Markenkern machen muss. Vorrang für Zuwanderer aus „unserem christlich-abendländischen Kulturkreis“, Verbot von Burka und Nikab – hey, das war doch unsere Idee!

Am 18. September wird in Berlin gewählt. Ich habe den Nachbarn nicht gefragt, wo er sein Kreuz machen wird. Aber ich werde Baldriantee kaufen. Für ihn oder für mich. Je nachdem.