Debatte über EU ohne Briten: „Alle Rechten feiern“
Der Brexit birgt Risiken. Aber er eröffnet auch Chancen für die EU, sagt Bremens frühere Grünen-Vorsitzende Henrike Müller
taz: Frau Müller, ist der Brexit eine Chance für die EU?
Henrike Müller: Ich finde ja. Anfangs war das natürlich bitter und traurig und wir haben alle gelitten, als das Votum kam – also wir Europa-EnthusiastInnen. Aber inzwischen ist eine Ruhe und Sachlichkeit eingekehrt, dass der Ausstieg zur Chance dafür wird, nachzudenken: Wie bauen wir die EU so um und so neu auf, dass die Menschen sie mittragen. Und dass sie Lust haben, sich für das Projekt der europäischen Intgration einzusetzen.
Ja, schade, dass man die Bedrohung des Brexit nicht als Chance genau dafür wahrgenommen hat …?
Das hat mich auch irritiert.
Mich nicht: Hatten Sie nicht den Eindruck dass auch konstruktive Kritik meist als Euroskepsis bewertet und abgebürstet – und so die Chance auf Reformen konsequent vertan wurde?
Das muss ich wirklich als jemand, der nun schon seit vielen Jahre in der Europapolitik unterwegs ist, selbstkritisch sagen. Der Reflex, auf Kritik an der EU immer zu antworten mit: „Nein, die EU ist schon toll“, war schon ziemlich ausgeprägt. Auch inhaltliche Auseinandersetzungen in einzelnen Politikfeldern sind, wenn sie auf die EU abzielten, schnell als Verrat am Friedensaufbau in Europa empfunden worden. Das war falsch. Und das ist ein Gegenstück zu dem, was uns auf die Füße fällt.
Was ist das?
Es ist die seit Jahrzehnten eben nicht nur in England gängige Praxis, für alles, was innenpolitisch schief läuft, Brüssel verantwortlich zu machen. Wir müssen verstehen, dass das nicht mehr legitim ist. Wir haben ein europäisches politisches System, das wir genauso verteidigen müssen, wie ein demokratisches System in den einzelnen Mitgliedstaaten: In Deutschland genauso wie in Frankreich, Polen oder Ungarn.
40, promovierte Politologin, war von 2011 bis 2016 Landesvorsitzende der Bremer Grünen, ist seit 2015 Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft und dort Vorsitzende des Europa-Ausschusses
Und was verleiht Ihnen die Hoffnung, dass zumal Brüssel umdenkt?
Die ersten Reaktionen der europäischen Kommission und der EU-Repräsentanten waren zum Großteil sehr unglücklich. Da gebe ich Ihnen recht. Das hatte so etwas von Trotz: Jetzt machen wir es eben ganz alleine, seht nur zu, dass ihr schnell weg seid. Jetzt habe ich aber schon den Eindruck, dass alle, die mit Europa zu tun haben, sehr intensiv darüber nachdenken, wie man die europäische Demokratie so ausformuliert kriegt, dass sie bei den Leuten auskommt.
Und die Lösung heißt: indem man Ceta, das Abkommen mit Kanada, dass nichttarifäre Handelshemmnisse, also demokratisch legitimierte Arbeits-, Umwelt- und Sozialstandards beseitigt, so schnell und mit so wenig Beteiligung wie nur möglich durchdrückt?
Ceta, TTIP und so weiter sind natürlich sehr schlechte Beispiele. Das stimmt. Auch abzulehnen, dass das durch die Parlamente geht, halte ich für kontraproduktiv. Dass sich die Kommission auf die europäische Jugendstrategie konzentriert, ist hingegen wichtig. So etwas passiert auch: Dass man besser auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas schaut, das ist ein positives Zeichen.
Allerdings dauert es, bis solche Impulse die Basis erreichen. Demolieren nicht vorher die Rechten die EU?
Der Brexit im Juni hat mehr als deutlich gezeigt, dass das gemeinsame Projekt Europa schon längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Artikulierten sich dabei nur nationalistische Ressentiments oder hat die Skepsis gegenüber der EU einen rationalen Kern? Was bedeutet es, wenn Beteiligungsprozesse wie das EU-Mitgliedschaftsreferendum in Großbritannien zunehmend von rechten Kräften genutzt werden? Und vor allem: Wie sähe eine produktive politische Reaktion auf die Krise der EU aus?
Darüber debattieren am 8. September 2016 Henrike Müller (B90/Die Grünen) und Christoph Spehr (Die Linke). Es moderiert Jan Hendrik-Kamlage.
Die von der Freiwilligenagentur organisierte Veranstaltung findet statt in der Bremer Zentrale des Sozialen Friedens Dienstes (SFD), Dammweg 18-20. Beginn ist 19 Uhr.
Ich hoffe nicht. Die Gefahr ist allerdings groß: Alle Rechten in Europa feiern den Brexit und streben dem nach. Ich hoffe, dass sich der Wunsch, daraus zu lernen, durchsetzt, und die Einsicht: Europäische Demokratie kann nur dann gelingen, wenn wir uns alle als ihre Multiplikatoren begreifen. Wir sind Teil des europäischen politischen Systems, auch, wenn wir Verkehrspolitik in Bremen oder Agrarpolitik in Niedersachsen machen – oder Gleichstellungspolitik auf Bundesebene. Das müssen wir wissen, und das müssen wir vermitteln. Anders wird es nicht funktionieren. Wenn wir uns weiter von der EU distanzieren, leisten wir den Rechten oder den anti-europäischen Parteien Vorschub.
Anti-europäisch – ist da die Linke mit gemeint, oder wird die Diskussion total peacig?
Nein, das glaube ich nicht. Die Linke hat eine fundamentalere Kritik am System der EU, als ich oder meine Partei. Von daher freue ich mich schon auf eine kontroverse Debatte.
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