Theater des Jahres
: Die Kraft des Lachens

Populärer Klamauk, Lust am Spiel, die auch zum hemmungs­losen Exzess werden darf

Erst kommt das Lachen, dann die Moral. Das riecht nach Brecht, ist es aber nicht. Der Spruch passt ganz gut auf die Kraft des Komischen als Antriebsmotor für das Verhandeln politischer und ethischer Fragen in den beiden Berliner Theatern, die in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Theater des Jahres gewählt wurden. 43 Kritiker nehmen teil, je sechs stimmten für die Volksbühne und das Maxim Gorki Theater.

Die gemeinsame Ehrung ist ein schöner Anlass für Vergleiche zwischen beiden Häusern. In eine Stellung der Opposition lässt sich das seit drei Jahren von Shermin Langhoff und Jens Hillje geleitete Gorki Thea­ter nicht zur Volksbühne bringen, die Castorf jetzt nach 25 Jahren in seine letzte Spielzeit steuert. Nicht nur weil Shermin Langhoff gern erzählt, dass sie an der Volksbühne Mitte der 90er Jahre das Theater als „politischen Raum“ entdeckt hat. Sondern vor allem, weil sich beide Theater tatsächlich in vielem nahe sind.

Beide haben eine Vorstellung von Volkstheater, von populärem Klamauk, von der Lust am Spiel, die auch zum hemmungslosen Exzess werden darf. Das Gorki Theater wirbt damit erfolgreich um ein junges Publikum, das sich aber auch deshalb aus ganz unterschiedlichen Milieus der Stadt (und anreisender Schulklassen) speisen kann, weil sich das Haus so vielen Geschichten und Erzählern aus queeren, migrantischen und postmigrantischen Gruppen öff­net. Dass Yael Ronens Stück „This Situation“ mit fünf Stimmen zum Stück des Jahres gewählt wurde, spricht auch für den Mangel an solchen Perspektiven andernorts. Ronen und ihr kollaboratives Ensemble von Schauspielern erzählen von Neukölln, einem Deutschkurs, Teilnehmern aus Syrien, Israel und Palästina und den vielen Bildern, die jeder von den anderen mit sich rumträgt. Das ist schon sehr programmatisch, beinahe lehrbuchhaft.

Die Volksbühne, insbesondere Castorf, verhält sich längst nicht so pädagogisch unkompliziert, aber nicht weniger ambitioniert. Seine Inszenierungen gleichen mehr der Führung durch eine gigantische Bibliothek, in der man, nach drei Stunden im fünften Saal angekommen, erfährt, es gibt noch zwanzig weitere Säle. Dieses Fressen durch einen Berg von Literatur, um dort viele Gedanken und Wissen aufzuspüren, die für die Gegenwart noch einmal von Interesse sind, ist ein unabschließbares Projekt.

Franz Wille, Redakteur von Theater heute, spuckt ein wenig Salz in die Suppe des „Relevanz-Rankings der deutschen Kritiker“, obgleich selbst Teilnehmer davon. Er stellt fest, dass beide Theater in der klassischen Kritik gegen soziale Ungerechtigkeit wurzeln. Und beide eigentlich einen gutbürgerlichen Kulturbegriff weiterleben. So was hören alte Anarchisten und neue Aktivisten nie gern.

Katrin Bettina Müller